Sach 9,12
S.Keller
Sacharja 9, 12: «... die ihr auf Hoffnung gefangen
lieget ...»
Jede Art von Gefangenschaft ist schwer: ob Kerkermauern
oder enge Verhältnisse, ob körperliche Gebundenheit oder
seelischer Druck uns einsperren. Denn einer der stärksten
Triebe unseres Geistes geht auf Freiheit, so daß man um
Freiheit manche anderen Güter preisgibt. Gefangenschaft ist
unerträglich, wenn man dabei nicht zwei Sterne leuchten
sieht: die Gewißheit, innerlich doch frei zu sein, trotz
aller fühlbaren Mauern und Banden und die Hoffnung, daß die
Gefangenschaft in absehbarer Zeit ein Ende haben muß. Nun,
ihr, meine mitgefangenen Brüder und Schwestern, wie steht's
mit eurer Überzeugung, daß eure Gefangenschaft ein Ende hat?
Liegt ihr auf Hoffnung gefangen? Sagt's doch euch selber am
Tage zum Trost vor: Ihr Verhältnisse (im Beruf, Not, Ehe,
Krankheit, Sünde), die ihr mich nach Gottes Willen jetzt noch
gebunden halten dürft, ihr habt keine ewige Gültigkeit! Ihr
müßt vergehen, und ich werde von euch frei. Darum will ich
euch als meine Schulmeister jetzt an mir arbeiten lassen,
aber es kommt der Tag, da der Herr die Gefangenen Zions frei
machen wird. Diese Hoffnung ist mein Lager, meine Erholung,
mein Trost mitten in der Kerkerluft der Gegenwart.
Herr, mache uns heute schon innerlich frei und stärke unsere
Hoffnung, daß ihr Licht heller leuchte und ihre Kraft uns
freudig mache zum Ertragen der Gegenwart. Ich hoffe auf dein
Heil! Herr meiner Hoffnung, tröste du uns alle durch deine
Verheißung. Amen.
C.O.Rosenius
So kehret euch nun zur Festung, ihr, die ihr auf Hoffnung
gefangenliegt. Sach. 9, 12.
,,Wie kann ich mich zur Festung kehren oder anfangen, an
Christus zu glauben, da ich noch so sündenvoll oder so hart,
leichtsinnig, ja, gottlos bin?" fragt hier sicher manche
gebundene Seele. Damit bist du unausgesetzt in dich selbst
gekehrt. Wenn man aber zu dir sagt: ,,Glaubst du nicht an
das Wort Gottes, so machst du Gott zum Lügner", dann sprichst
du: ,,Wohl glaube ich, daß Seine Versöhnung hinreichend und
Seine Liebe groß ist. Der Fehler aber liegt an mir, es ist
meines Herzens Härte, meine erschreckliche Sicherheit und
Heuchelei, meine gräßliche Sündenliebe usw." Sieh, so merkt
man, daß du dich gerade von der Festung weg in dich hinein
wendest und dem Zeugnis Gottes von Seinem Sohn nicht
glaubst, daß Er uns nämlich als ganz Verlorene erretten wird.
Du aber willst unbedingt als verbessert kommen und glaubst
und beachtest nicht, was Christus sagt, daß du nämlich zuerst
durch den Glauben in Ihn gepfropft sein mußt, d. h., daß du
zuerst als gottlos gerechtfertigt und begnadigt, mit dem
Frieden und der Freude des Glaubens erfüllt werden mußt,
bevor du anfangen kannst, Frucht zu bringen.
,,So kehret euch nun zur Festung, ihr, die ihr auf Hoffnung
gefangenliegt." Wir wiederholen es noch einmal! Dein ganzes
Unglück ist, daß du dich nicht sofort zur Festung kehrst,
sondern dich zu tausend anderen Dingen wendest und denkst und
versuchst und wartest und hoffst, - hoffst auf alles andere,
ja, gefangenliegst in einem Warten und Harren auf etwas
Besonderes, das noch in deinem eigenen Herzen vor sich gehen
soll, Erlösung von einer bestimmten Sünde, von bösen
Gedanken, von Härte, Leichtsinn und Unvermögen, - und
die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist,
sie steht im finsteren Hintergrund. Da liegt der Fehler!
Und unzählig, ganz unendlich sind die Bedingungen und die
Vorbehalte, über die man dann grübelt und in denen man
gefangenliegt. Daß der Sohn Gottes aber für uns starb und
alles darin besteht, daß die Gnadenquelle viel mächtiger als
der Sündenstrom fließt - und zwar gleichermaßen für alle
Sünder -, das bedeutet für den Betreffenden nichts, darüber
meint er, sein Heil verscherzend, schnell hinwegflattern zu
können.
Erwache darum und bedenke dieses Einzige, ewig Große und
ewig Gültige, daß die Sünden der ganzen Welt schon getilgt
sind, daß Gott schon versöhnt und mild ist, und vor lauter
Liebessehnen brennt, dir Gnade um Gnade zu geben! Alle uns
beunruhigenden Worte Gottes, die etwas von uns fordern und
deshalb Worte des Gesetzes sind, haben nur den Sinn, daß
jeder Mund verstopft werde und alle Welt vor Gott schuldig
sei. Sie sind nur den freien, sorglosen Gottesverächtern
gesagt, die nie nach dem Himmel fragen, oder den sicheren
Heuchlern und selbstgerechten Pharisäern, die selber den
Himmel zu verdienen meinen, keineswegs aber den armen Sündern,
die sich selber strafen und richten, die gern Buße und Glauben,
Reue und Gebet haben wollen, dieselben aber nie so bei sich
finden, wie sie möchten. Ihnen ist lauter Gnade, lauter
Liebe und Vergebung zugesagt. ,,So kehret euch nun zur
Festung, ihr, die ihr auf Hoffnung gefangenliegt," spricht
der Herr; ,,denn auch heute verkündige Ich, daß Ich dir
Zwiefältiges vergelten will".
,,Auch heute" - ja, auch heute verkündigt Er dir dieselbe
Gnade! ,,Auch heute" predigt Er den Gebundenen Erlösung!
Wenn wir in den Passionstagen so viel vom Leiden Christi
verkündigen hören und unserem Heiland auf Seiner Marterbahn
folgen, wenn wir Ihn in Gethsemane Blut schwitzen sehen
und Ihn am Kreuze in bezug auf das ganze in der Schrift
vorhergesagte Versöhnungsleiden ausrufen hören: ,,Es ist
vollbracht!" - ja, wenn wir Ihn auf Grund dieser Versöhnung
den Schächer augenblicklich begnadigen sehen und erleben,
wie Er ihm die ganze selige Frucht Seines Leidens mit der
lieblichen Versicherung zusagt: ,,Heute noch wirst du mit
Mir im Paradiese sein", - sollten wir dann nicht unserem
ungläubigen Warten ein Ende machen und sogleich in Seine Arme
laufen? Sollten wir nicht Seine Arme auch gegen uns
ausgestreckt sehen und die Worte aus Seinem Mund hören:
,,Auch heute verkündige Ich's!" ,,Kommt her zu Mir alle, die
ihr mühselig und beladen seid, Ich will euch erquicken, so
werdet ihr Ruhe finden für eure Seele!"? Ja, noch einmal:
,,Ihr, die ihr auf Hoffnung gefangenliegt", warum zögert ihr,
euch zur Festung zu kehren? Wollt ihr selbst würdiger
werden, oder soll Gott gnädiger werden? Noch heute kehrt
euch zur Festung, nehmt den so wichtigen Schritt, begehrt
eine ganze Begnadigung und Aufnahme in Seinen Bund aus ganz
unverdienter Gnade, nur um Seines Blutes willen! Tut den
wichtigen Schritt heute - und wißt, daß noch kein armer
Sünder den Schritt vergebens getan hat. Denkt nicht an ein
langes Gebet; seht, wie kurz der Schächer bat, der doch
sofort die Trostantwort erhielt: ,,Heute wirst du mit Mir im
Paradiese sein." - Aber vor einem mußt du dich hüten wie vor
dem Tode, davor nämlich, die Antwort in deinem eigenen
Herzen, in deinem Gefühl zu suchen. Erblicke sie in der
Zusage Gottes: ,,Auch heute verkündige Ich, daß Ich dir
Zwiefältiges vergelten will." Das heißt Gnade um Gnade.
Gelobt sei Gott!
So wie ich bin, so arm und schlicht,
Daß mir's am Guten ganz gebricht,
Nur weil ich weiß, daß Du für mich
Gestorben bist, so komme ich
Zu Dir, O Gotteslamm!
So wie ich bin, bevor ich gar
Vermocht, was ewig fruchtlos war,
Mich selbst zu machen frei und rein,
Zu Dir, der Du es kannst allein,
Komm ich, O Gotteslamm!