Kla 3,39
A.Christlieb
Wie murren die Leute im Leben also? - Ein jeglicher murre
über seine Sünde. Klagelieder 3, 39
Als Nebukadnezar Jerusalem erobert hatte, als die Stadt
in Trümmer gesunken war, als die Toten noch unbestattet
herumlagen und die Feinde über ihren Sieg jubelten, hörte
Jeremias ein Murren unter seinen Volksgenossen, zu dem er
nicht schweigen konnte. In diesem Murren erkannte er die
unrichtige Herzensstellung Israels gegenüber der göttlichen
Heimsuchung. ,,Wer darf denn sagen, solches geschehe ohne
Befehl des Herrn?" ,,Israel, solches bereitest du dir selber!
Es ist deiner Bosheit Schuld, daß du so gestäupt wirst und
deines Ungehorsams, daß du so gestraft wirst" (Jer. 2, 19).
,,Ein jeglicher murre wider seine Sünde!" - Auch in unseren
Tagen haften die Blicke vielfach nur an dem Elend und den
schrecklichen Nöten der Zeit. Daraus entsteht dann das
Murren, das ungöttlich ist und uns vom Herrn abzieht.
Solches Murren ist verderblich. Heilsam aber ist das Murren,
zu dem Jeremia direkt auffordert: ,,Ein jeglicher murre
über seine Sünde!" Dieses Murren erwächst aus richtiger
Selbstprüfung, zu der Jeremia auffordert mit den Worten (V.
40): ,,Laßt uns erforschen und prüfen unser Wesen." Dieses
richtige Murren lehrt uns das Beispiel der Dorothea Trudel,
der Gründerin der Männedorfer Anstalten. Diese Magd des
Herrn wurde einst am späten Abend zu einem fern wohnenden
Kranken gerufen. Erst spät in der Nacht kehrte sie heim,
müde und hungrig. Sie hatte gehofft, man würde ihr eine
Erfrischung bereitgestellt und etwas vom Abendbrot verwahrt
haben. Niemand hatte daran gedacht. Da stiegen im Herzen
der treuen Dienerin Gottes verdrießliche Gedanken auf. Am
anderen Morgen hörte jemand ungewollt, wie sie im Gebet
inständig den Herrn um Vergebung anflehte wegen der
mürrischen Gedanken darüber, daß man an sie in der
vergangenen Nacht nicht so dachte, wie sie es erwartet hatte.
Sie übte das Murren wider die eigene Sünde. - Das ist ein
Weg zu seligem, wahrem Christenleben.
C.Eichhorn
Die rechte Unzufriedenheit
Wie murren denn die Leute im Leben also? Ein jeglicher murre
wider seine Sünde! Klagel. 3, 39
Als Jeremia seine Klagelieder verfaßte, war schwere Zeit.
Ein furchtbarer Zusammenbruch war erfolgt, ein Strafgericht
war am Volk vollzogen, das einen völligen Untergang nach sich
zu ziehen schien. Der gewaltige Nebukadnezar kannte keine
Schonung. Mit rücksichtsloser Gewalt trat er das Volk der
Juden zu Boden und seine Gefangenen unter seine Füße.
Teuerung und Hunger herrschten in dem verödeten, ausgeleerten
Land. - Da gab es genug Grund, zu klagen und zu murren.
Viele zweifelten, ob es überhaupt einen Gott im Himmel gebe,
der das Geschick der Menschen leitet. Denn sie konnten diese
Ereignisse und Zustände mit der Gerechtigkeit Gottes nicht in
Einklang bringen. - Grund zur Unzufriedenheit ist auch bei
uns reichlich vorhanden. Wohin man kommt, hört man
Äußerungen des Unmuts und der Bitterkeit. Und doch ändern
wir mit allem Kritisieren und Schimpfen nicht das Geringste.
Wir kommen nicht vom Fleck. Das Leben fließt dahin unter
unnützen Klagen und Vorwürfen, wenn nicht endlich der Mensch
den tiefsten Grund alles Jammers erkennt: die Sünde. - Ein
jeder murre wider seine Sünde! "Du hast mich gezüchtigt, und
ich habe mich auch züchtigen lassen." Wenn diese Tonart
erklingt, dann ist bald gewonnen. Wenn ich das Schwere, das
über mich kommt, als Züchtigung vom Herrn annehme und mich
darein füge, indem ich einsehe: Es ist meines Ungehorsams
Schuld, daß ich so gestraft werde, dann bin ich auf der
richtigen Spur. Ich kehre den Dolch wider mich, ich zürne
mir und nicht andern. Ich hadere nicht mehr mit meinem
Schicksal, ich ziehe mich selbst zur Rechenschaft. Es ist
nicht zu befürchten, daß wir gegen uns selbst allzu hart und
scharf vorgehen. Wir sind von Natur nur allzu nachsichtig
und rücksichtsvoll gegen uns selbst. Wir verurteilen uns
niemals mit allzugroßer Strenge. - Sobald wir uns als die
eigentlich Schuldigen erkennen, verwandelt sich das Murren in
ein Beten und Flehen um Gnade. Äußere Nöte treiben wohl auch
ins Gebet, sie machen aber auf der andern Seite den Menschen
leicht an allem Gebet irre, wenn die begehrte Hilfe
ausbleibt. Anders dagegen ist es, wenn der Mensch in Sünden-
und Gewissensnot gerät. Dann hört sein Gebet auf,
oberflächlich zu sein. Dann heißt es: "Aus der Tiefe rufe
ich, Herr, zu dir; erhöre meine Stimme, laß deine Ohren
merken auf die Stimme meines Flehens!" Oder: "Es haben mich
meine Sünden ergriffen, daß ich nicht sehen kann; ihrer ist
mehr denn Haare auf meinem Haupt, und mein Herz hat mich
verlassen." Ein solches Gebet wird unfehlbar erhört, und dann
verwandelt sich das Murren in Lob und die Klage in einen
Reigen.
Gib, Herr, Geduld, vergiß der Schuld, schaff ein gehorsam Herze,
daß ich nur nicht, wie's wohl geschieht, mein Heil murrend verscherze!