Psalmen

Ps 38,17 S.Keller Psalm 38, 17: «... mein Schmerz ist immer vor mir.»

Es ist noch nicht allzulange her, daß ich angefangen habe, Verdacht zu schöpfen gegen den Schmerz. Früher sah ich nur seine guten Seiten. Ohne Schmerz gäbe es keine Kultur und keinen Fortschritt: der Sonnenschein allein macht die Wüste. - Aber der Schmerz hat doch auch seine großen Gefahren, und wenn unser Textwort buchstäblich bei einem Menschen für Jahrzehnte wahr wird, soll er sich vor diesem Gast wohl in acht nehmen. Der Schmerz verwirrt unser Urteil und will in uns keine Lebensfreudigkeit aufkommen lassen: im Schmerz sehnt man sich nach Tod und Ruhe. Der Schmerz macht auch leicht selbstsüchtig, daß man sich zu viel mit sich selbst beschäftigt. Bei manchen Witwen, die vorher in glücklicher Ehe gelebt hatten, ist das der stets wiederkehrende Kehrreim aller Gespräche: Ach, warum ist mein Mann gestorben! Bei manchen Kranken, die noch im ersten Stadium des Siechtums sich befinden, ist die ganze Selbstsucht ihrer noch ungebrochenen Natur um den Altar des Schmerzes versammelt. Schmerz allein taugt nicht; aber wenn neben und hinter dem Schmerz Jesus bei uns ist, dann kann die Atmosphäre der Tränen die schönste Strahlenbrechung seines Lichtes schaffen - wie Sonnenuntergänge am Meer. -

Soll es Schmerzen geben, lieber Heiland, dann laß uns in dieser Gesellschaft nicht allein. Richte unsere Gedanken dann auf dich und deine Liebe und öffne uns den Trost, daß wir uns mit anderer Not und Glück selbstlos beschäftigen können. Lehre uns lieben mitten im Schmerz. Amen.