1Mo 9,22
J.Kroeker
Von Ham und seinem Fall.
"Da nun Ham, Kenaans Vater, die Blöße seines Vaters sah,
verriet er es seinen beiden Brüdern draußen." 1.Mose 9,22.
Noahs Fall zog den Fall seines Sohnes Ham nach sich.
Zugleich gab er aber auch den beiden anderen Söhnen
Gelegenheit zur Entfaltung ihrer höchsten Tugenden. Jede
Sünde kann nach diesen beiden Seiten hin Anregung geben. Ham
verführte sie zu weit größerer Sünde, Sem und Japhet gab sie
den Anlass zu einer der edelsten Taten. Als Noah merkte,
dass der Genuss des Segens ihm zum Rausche wurde, flüchtete
er ins Zelt. Die alten Weisen nehmen an, dass es das
Frauenzelt gewesen ist, wo Noah bestimmt hoffen durfte,
von seinen Söhnen nicht gesehen zu werden.
Ham ging jedoch ins Zelt und erblickte seinen Vater. Dann
eilte er hinaus und erzählte den ganzen Vorgang seinen
Brüdern. Das Wort, das hier im hebräischen Texte für
"erzählen" gebraucht wird, drückt ein Anschaulichmachen durch
Worte aus, ein Erzählen, aus dem eine ganze Geschichte wurde.
Damit sollte offenbar gesagt werden, dass Ham sich nicht nur
persönlich an dem Geschauten ergötzte, sondern glaubte, dass
in der Mitteilung auch für seine Brüder etwas Ergötzliches
liegen würde. So fiel Ham, indem er sich ergötzte an der
Sünde des Nächsten.
Kein Volk des Altertums kannte ein so reines Verhältnis
zwischen Eltern und Kindern wie die Söhne Jakobs, denen es
Gott nicht nur auf Steine, sondern ins Herz schreiben konnte:
"Ehre Vater und Mutter, auf dass dir's wohlgehe!" Denn auf
dem Verhältnis der Kinder zu den Eltern baut sich die ganze
Menschheit auf. Die Eltern sind die Gebenden und ihre Kinder
die Empfangenden. Als Erben übernehmen sie die errungenen
und geschaffenen Werte und Erfahrungen der Eltern und
verwenden sie zu Bausteinen für ihren eigenen Aufbau. Wenn
sich aber Ham an einem ungewollten Fall seines Vaters
erfreuen kann, dann beginnt mit dem Kind jener Abstieg, der
in der späteren Entwicklung mit völliger Entartung endigt.
In Sem und Japhet begegnen wir jedoch einer völlig anderen
Kindesstellung. Sie fanden die Mittel, den Fall ihres Vaters
zuzudecken. Damit offenbarten sie jenes wunderbare Gesetz
des Lebens, dass man der Sünde im Nächsten begegnen kann,
ohne durch die Sünde seines Nächsten verunreinigt zu werden.
Wo das Auge des Bösen sich über das Böse im Nächsten ergötzt,
da findet das Auge des Gerechten jene Hand und Schulter, die
des Nächsten Fehl zuzudecken vermögen. Menschen, die überall
im Leben und in der Geschichte nur das Böse sehen und es zum
Stoff ihrer Überlieferung machen, werden nie eine positive
Mission für den Aufbau der Zukunft haben. Niemand sieht so
klar alles Böse als der Teufel. Aber sein Schauen macht ihn
zum Verkläger von uns und unsern Brüdern und zum Widersacher
in der ganzen Schöpfung Gottes.