Tit 2,11
C.Eichhorn
Die erziehende Gnade
Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen
und züchtigt uns, daß wir sollen verleugnen das ungöttliche
Wesen und die weltlichen Lüste und züchtig, gerecht und
gottselig leben in dieser Welt. Tit. 2, 11.12
Die heilsame oder rettende Gnade wird auch zu einer
erziehenden, die nicht ruht, bis sie uns in den rechten,
gottwohlgefälligen Stand gebracht hat. Gerettet sind wir
mit einem Male. Der Sünder ist begnadigt in dem Augenblick,
da er den Heiland im Glauben ergreift. Gott nimmt die
ganze Sündenschuld mit einem Mal weg, an einem einzigen Tag,
wie es schon im Propheten Sacharja heißt (Sach. 3, 9). Anders
verhält sich's mit der erziehenden Gnade. Ihr Werk geht
durchs ganze Leben fort. - "Der Herr wird das gottlose Wesen
von Jakob abwenden. Und dies ist mein Testament mit ihnen,
wenn ich ihre Sünden werde weggenommen haben" (Röm. 11,
26.27). Das erste ist also die große Gnadentat der Wegnahme
der ganzen Sündenschuld. Dann hat Gott es als ein Testament,
als eine unverbrüchliche Bestimmung gesetzt, daß er auch
alles gottlose Wesen von seinem begnadigten Volk abwendet.
Das hat er sich fest vorgesetzt, davon geht er nicht ab. Er
ruht nicht, bis er uns so weit gebracht hat, daß wir züchtig,
gerecht und gottselig leben in dieser Welt. Die einzige
Bedingung ist die, daß wir uns seiner Gnadenzucht willig
und gehorsam unterstellen. Die Gnade deckt das in unserem
Herzen noch vorhandene ungöttliche Wesen und die oft noch
versteckten weltlichen Lüste auf. Sie straft uns darüber, sie
macht uns diese Dinge zur Last. Wir spüren, daß dies zu dem
neuen Wesen durchaus nicht paßt. Früher waren die Welt und
ihre Lust unsere natürliche Heimat und unser Element. Im
Stand der Gnade aber empfinden wir sie als etwas, was dem
neuen Wesen des Geistes fremd ist. Die Gnade macht, daß wir
alles Ungöttliche ablehnen und nichts mehr davon wissen
wollen. - Das Ziel der Gnadenerziehung ist, daß wir züchtig
leben oder uns in beständiger Zucht halten, so daß der alte
Mensch mit seinen Lüsten und Leidenschaften sich nicht mehr
durchsetzen kann. Nicht wir beherrschen uns eigentlich,
sondern die Gnade wird Herr über uns, wenn wir ihrem Ziehen
gehorsam sind. Zweitens bringt uns die Gnade dahin, daß wir
gerecht leben im Verhältnis zu unsern Mitmenschen, niemand
Unrecht tun weder mit Worten noch mit Werken und jedem
das Seine zukommen lassen, auch dem Dürftigen von unserm
Überfluß. Denn zur Gerechtigkeit im biblischen Sinn gehört
auch die Liebe. Drittens treibt uns die Gnade zum
gottseligen Leben. Sie führt uns aus der Zerstreuung des
äußeren Lebens in die Stille; sie mahnt uns, durch Gottes
Wort und Gebet die Verbindung nach oben zu stärken und zu
befestigen und die Gemeinschaft mit dem Vater und dem Sohn
treulich zu pflegen. Denn daraus fließt alles andere.
Züchtig, gerecht und gottselig leben in dieser zuchtlosen,
ungerechten, gottlosen Welt, das ist wahrlich etwas Großes.
Doch die Gnade bringt's fertig in denen, die sich treu
ihrer Zucht unterstellen.
S.Keller
Zu Weihnachten
Tit. 2, 11: «Denn es ist erschienen die allen Menschen
heilsame Gnade Gottes.»
Allen Menschen heilsam - d.h. ohne diese Gnade wird kein
Mensch von seinem natürlichen Schaden geheilt, ohne diese
Gnade geht jeder Mensch an sich selbst zugrunde. Man braucht
nicht an grobe Laster zu denken - aber es steckt doch in
einem jeden von uns schon viel erbliche Belastung von bösen
Anlagen. Darum durfte die Gnade nicht verborgen bleiben,
sondern mußte erscheinen. Sonst ist manches von der
Herrlichkeit und Schönheit Gottes verborgen, aber diese eine
der Menschheit zugekehrte Seite hätte gar nicht wirken
können, wenn sie vor aller Welt verborgen geblieben wäre.
Nun ist es zu Weihnachten so deutlich geworden, was Gott
vorhat, daß er seine Gnade als ein menschliches Kind unter
uns hat geboren werden lassen, daß seine Gnade persönlich
in unser Leben hineinkam, damit alle, die daran glauben,
persönliche Hilfe erleben sollten. Heilsam, Gnade,
erschienen - drei Gedanken zu einer Weihnachtsbetrachtung
für dich! Denke jeden in seinen Wirkungen für dich selbst
durch und bete darüber, dann wird's eine stille, gesegnete
Feststunde für dich werden, und die alte Weihnachtsbescherung
wird dir neuen Glanz und neue Freude bringen.
Wir danken dir, lieber Vater im Himmel, daß du dich unseres
Elends so tiefgründig erbarmt hast und so viel Heilkraft in
deine Gnade gelegt hast, die da Jesus heißt. Laß uns wieder
aus seiner Fülle nehmen Gnade um Gnade. Amen.
S.Keller
Tit. 2, 11.12: «(Die heilsame Gnade Gottes) züchtigt uns ...»
Merkwürdig: Gnade und Züchtigen in einem Atem genannt. Gnade
vergibt, Gnade heilt, Gnade richtet auf, Gnade rettet - alles
mögliche läßt sich mit ihr vereinen und von ihr aussagen;
aber wie sollen wir das verstehen, daß sie züchtigt? Wer so
fragt, hat wohl die Gnade noch nie erlebt. Solch eine volle,
rettende Gnade, die alle alten Sünden verzeiht, als hätte
man sie nie gehabt, noch getan, daß man sich ihr gegenüber
vorkommt wie in einer mächtigen Liebeswelle, bringt die
Eiskruste des Mißtrauens gegen Gott zum Schmelzen und schafft
ein neues Leben. Sie zieht uns in einen Liebesumgang mit
Gott hinein, wo wir einfach außerstande sind, die alten
Schlechtigkeiten gutzuheißen und listig zu verstecken.
Sie entwaffnet uns und beschämt uns, sie überbietet alles,
was wir uns hatten träumen lassen, und zwingt uns neue
Entscheidungen und Entschlüsse ab. Wir können hinter solcher
Hingabe Gottes in Christo nicht zurückbleiben. Er vertraut
uns und glaubt an unsere Änderung: können wir solch einen
großartigen Gott enttäuschen? Wir müssen mit der Erneuerung
unseres Lebens Ernst machen, wie Gott Ernst machte mit der
Tilgung der alten Schuld. Die Gnade wird unser weiser,
starker Erzieher, dem wir gehorchen müssen.
Wir danken dir, Herr Jesus, daß du unsere persönliche Gnade
geworden bist, daß du uns von innen heraus erneuerst und
zu dir ziehst. Jetzt laß unser Mund und Leben dein Lob
verkünden! Du bist es wert. Amen.
C.O.Rosenius
Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen
und unterweist uns, ... daß wir warten auf die selige
Hoffnung und Erscheinung der Herrlichkeit des großen Gottes
und unseres Heilandes Jesus Christus. Tit. 2, 11-13.
,,Die Wiederkunft des Herrn ist nahe", sagt der Apostel
Jakobus. Was kann wohl die Ursache davon sein, daß der
Gedanke an die Wiederkunft des Herrn uns so wenig
beschäftigt? Was kann die Ursache dafür sein, daß dieser
Gedanke, der unter viel geringeren äußeren Umständen bei den
ersten Christen doch so lebhaft, so gegenwärtig und allgemein
war, bei den Zeichen der Zeit in unseren Tagen uns so fremd,
ja, fast ganz aus unseren Herzen verschwunden ist?
Wir leugnen nicht, daß wir ganz allgemein bei der Lehre von
der Wiederkunft des Herrn als einem Glaubensartikel bleiben.
Daraus folgt aber nicht, daß wir diese Ankunft Christi auch
zu unserer Hoffnung haben. Die Frage ist nämlich nicht:
,,Glaubst du, daß der Herr kommen wird?" sondern: ,,Lebst
du in der Hoffnung, in einer wirklichen Erwartung Seiner
Wiederkunft?" Auf diese Frage können nicht viele unter uns
mit einem Ja antworten. Wäre es so, daß alle Gläubigen in
der Hoffnung und der Erwartung der Wiederkunft des Herrn
wandelten, dann würde diese Hoffnung sich auch mehr in
unseren Predigten, unseren Gesprächen, unserem ganzen
Leben kundtun - dann würden sich nicht allerlei
Glaubensbekenntnisse und oft unbiblische Lehren über die
Zukunft der Kirche Jesu Christi oder über die Frage nach
unseren Entschlafenen unter uns einschleichen können.
Aber kommen wir wieder auf die Frage: Was kann die Ursache
davon sein, daß der Gedanke an die Wiederkunft des Herrn uns
so fremd, ja, beinahe unwillkommen ist, während er in den
Herzen der ersten Christen so lebhaft, lieb und gegenwärtig
war? Es ist dies sicherlich kein gutes Zeichen. Jede
Hoffnung setzt einen Wunsch voraus, jeder Wunsch aber hat
seine Wurzel in dem, was man liebt. Wünschten wir und
sehnten wir uns wirklich nach dem Tag der Wiederkunft des
Herrn, wo alles Dunkel im Glauben, alle Schwachheit, alle
Sünde und alle Untreue gegen unseren Heiland ein Ende haben
und wir Ihn ergreifen werden, wie wir von Ihm ergriffen
wurden, Ihn sehen, wie Er ist, und Ihm gleich sein werden -
wünschten wir diese Seine Offenbarung mehr, dann würden wir
auch alle Verheißungen, die es für die selige Hoffnung dieses
erwünschten Tages gibt, aufsuchen und mit Freuden umfassen.
Wären wir demnach mehr geistlich gesinnt, liebten wir unseren
Heiland mehr und strebten wir mehr nach dem, wonach die Liebe
immer strebt, nämlich ganz mit Ihm vereinigt zu werden, dann
würden wir auch mehr in der Hoffnung leben!
Diejenigen, die das Wort Gottes mit größerem Ernste zu Herzen
nehmen, die mehr in der Übung der Buße zu Gott und des
Glaubens an unseren Herrn Jesus Christus stehen, so daß der
Geist der Gottesfurcht stündlich über ihr ganzes Wesen wacht,
die Sünde also nicht unbestraft bleibt, sondern schmerzlich
gefühlt wird - wobei auch die Gnade in Christus umso
köstlicher wird, durch die Sünde aber auch vor ihren Blicken
verdeckt und verborgen ist - sie haben in der seligen
Hoffnung auf die herrliche Wiederkunft unseres Herrn Christus
eine liebe Betrachtung, eine lebendige Hoffnung. Sie blicken
mit inniger Sehnsucht dem Tage entgegen, an dem der dicke
Nebel, der hier ihren Glauben umgab, auf ewig von der
Herrlichkeit des Herrn zerteilt sein wird. Sie warten auf
den Tag, an dem sie den Freund und Heiland sehen werden, an
den sie hier glaubten, mit dem sie redeten und von dem sie,
ohne Ihn zu sehen, begleitet wurden, und an dem sie endlich
einst auf ewig das genießen werden, was sie hier vergebens
suchten - nämlich eine vollkommene Klarheit, eine volle
Gewißheit, eine fühlbare Nähe des Heilandes -, an dem sie
außerdem auf ewig von dem bösen Fleisch, das hier immer so
viele Sünden, Schwachheiten und Anfechtungen mit sich
brachte, und von den feurigen Pfeilen des argen Feindes
befreit sein werden.
Wären wir der Welt und diesem Gegenwärtigen mehr abgestorben
und hätten wir unser Leben und unsere Freude in Gott allein,
sicherlich wäre dies dann eine selige Hoffnung für unser
Herz. Wo das Herz aber geteilt, wo es auch von irdischen
Dingen eingenommen ist, da kann die Sehnsucht nach dem
himmlischen Bräutigam nicht Eingang finden. Und dies Leben
kann weder recht heilsam noch gesund sein, da es nicht mit
dem Wort der Schrift und dem Sinn der ersten Christen
übereinstimmt. ,,Unser Wandel ist im Himmel", sagt Paulus,
,,von dannen wir auch warten des Heilandes Jesus Christus,
des Herrn, welcher unseren nichtigen Leib verklären wird, daß
er ähnlich werde Seinem verklärten Leibe." Und er ermahnt:
,,Seid ihr nun mit Christus auferstanden, so sucht, was
droben ist, da Christus ist, sitzend zu der Rechten Gottes.
Trachtet nach dem, was droben ist, nicht nach dem, was auf
Erden ist. Denn ihr seid gestorben, und euer Leben ist
verborgen, ja, verborgen mit Christus in Gott. Wenn aber
Christus, euer Leben, sich offenbaren wird, dann werdet ihr
auch offenbar werden mit Ihm in der Herrlichkeit."
O, daß wir die Lehre Christi, wie auch die der Apostel von
der Wiederkunft des Herrn und der Hoffnung der Christen
mehr zu Herzen nehmen möchten!
Ach, wär' ich doch schon droben,
Mein Heiland, wär' ich da,
Wo Dich die Scharen loben,
Und säng' Halleluja!