Kol 3,14
C.O.Rosenius
Über alles aber zieht die Liebe an, die da ist das Band der
Vollkommenheit. Kol. 3, 14
Die Summe alles dessen, worauf die Ermahnung des Apostels
hinausgeht, ist die Liebe. Um nicht weiter einzelne Tugenden
aufzuzählen, will der Apostel sagen: So zieht die Liebe an;
sie ist das Band der Vollkommenheit und faßt alle anderen
Geistesfrüchte und christlichen Tugenden in sich - wie er
Röm. 13 sagt: ,,Wer den Nächsten liebt, der hat das Gesetz
erfüllt. Die Liebe tut dem Nächsten nichts Böses. So ist
nun die Liebe des Gesetzes Erfüllung." Darum nennt er sie
hier auch das Band der Vollkommenheit oder, wie andere es
übersetzen wollen, ,,das Bündel der Vollkommenheit", die
Zusammenfassung aller Vollkommenheiten. Denn die Liebe tut
alles Gute und nichts Böses. ,,Die Liebe ist langmütig und
freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht
Mutwillen, sie bläht sich nicht, sie sucht nicht das Ihre,
sie trachtet nicht nach Schaden, sie verträgt alles, sie
glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles." Das letzte
Stück der kostbaren Kleidung, die der Apostel uns hier
ausbreitet, bildet die Liebe. Sie ist das glänzende
Perlenband, das schließlich die ganze Kleidung bestrahlt,
oder der goldene Gürtel, der allen anderen Schmuck der
Christen umfaßt und zusammenhält; sie ist das Band der
Vollkommenheit.
Sieh nun, in welch schöner Kleidung die Kinder Gottes wandeln
sollen! Und doch ist diese nicht ihr ,,Feierkleid", in dem
sie vor dem Könige stehen sollen, dazu ist eine viel
vollkommenere Kleidung erforderlich, nämlich die weiße Seide,
die im Blutdes Lammes gewaschen ist. Vielmehr ist dies nur
die Alltagskleidung, in der wir vor den Menschen wandeln und
arbeiten sollen. Vor Gott gilt nicht einmal die Heiligkeit
der größten Heiligen. Vor Ihm sind nicht einmal die Himmel
rein. ,,Sieh, unter Seinen Knechten ist keiner ohne Tadel,
und in Seinen Boten findet Er Torheit." Hier gilt nur das
Kleid der Gerechtigkeit Christi, das Er schließlich auch
über unseren besten und redlichsten Wandel ziehen muß; und
Er wird sagen:
,,Er kann gut sein vor den Menschen, aber nicht vor Gott" -
aber ,,Ich tilge deine Übertretungen um Meinetwillen; Ich
habe deine Sünden von dir genommen und habe dir Feierkleider
angezogen."
Wenn nun aber jemand sagt: ,,Ja, das ist es, was ich glaube:
Unser Leben kann vor Gott nicht bestehen, darum ist es auch
nicht wert, so viel Aufhebens davon zu machen" - und läßt
seiner Natur volle Freiheit, redet vom Glauben und von der
Gnade, gibt aber dem Fleische Freiheit, weil wir doch nicht
anders als schuldig werden können -, dann ist dies bei diesem
Menschen kein gutes Zeichen dafür, daß der Geist Gottes in
seinem Herzen wohne. Mögen wir hierin auch alle schuldig
werden, und mag eine sanftere Natur bei einem Weltmenschen
bewirken, daß er oft freundlicher, sanftmütiger und
langmütiger ist als ein Christ, der ein sehr schweres
Temperament hat - es muß aber doch ein neues Verhältnis
werden, wenn der Geist Gottes mit Gnade und Friede im Herzen
Raum erhält. Der Heilige Geist kann unmöglich unwirksam
sein. Zum mindesten wird Er sich darin offenbaren, daß
das Gnadenkind, auch wenn die Hitze der Natur es übereilt,
darüber doch einen zerschlagenen Geist haben wird und daß es
seine Schwachheiten erkennt, sich selbst straft und sowohl
Gott als auch Menschen um Geduld und Hilfe bittet. Wo der
Geist Gottes wohnt, muß man nach dem Guten jagen; selbst
wenn man mit vieler Mühe und Schwachheit kämpft, darf man
die Sache doch nicht aufgeben. Kurz: Die Rebe, die Frucht
bringt, wird gereinigt; die aber keine Frucht bringt, wird
nicht gereinigt, nicht gezüchtigt, sondern darf frei sein und
nach Belieben wachsen, soll aber - brennen. Gott helfe einem
jeden, aufrichtig zu sein!
Aber hier dürfte ein anderer sagen: ,,Das ist gerade das, was
ich gedacht habe. Darum wird es bestätigt, daß ich weder vor
Gott noch vor den Menschen so bin, wie der Apostel hier sagt.
Das ist gerade meine Verdammnis, daß ich nicht so sein kann,
wie ich in diesem Fall sein müßte; darum bin ich aber auch
nicht einer der Auserwählten Gottes." Sagen wir dann: ,,Du
mußt so sein, wie der Apostel hier ermahnt; du darfst nicht
nach deiner Natur sein; du mußt dich bessern; du sollst nach
dem Worte sein," so antwortet der Betreffende: ,,Das gerade
ist es, was ich glaube. Je mehr ich aber Gott um die Gnade
bitte, anders zu werden, desto ärger werde ich, so daß ich
schließlich nicht einmal recht ernst bin, nicht einmal recht
streite, bereue und bete." So merkst du dann, daß du nicht
glaubst, keinen Frieden mit Gott hast, nicht selig und
glücklich im Herrn bist. Du liegst in der Knechtschaft
des Gesetzes, bist nicht dem Gesetz gestorben und in der
Gerechtigkeit Christi auferstanden; du bist nicht frei
und selig im Glauben. Wie aber wäre es dann möglich, daß
du ,,die Früchte des Glaubens" haben könntest? Lerne zu
verstehen, was die Worte ,,Früchte des Glaubens" bedeuten,
nämlich das, was aus dem Glauben und der Freude über die
große Gnade hervorfließt. Beachte! Es ist kein Scherz, wenn
das Evangelium redet. Es redet nicht nur, um lieblich zu
sein und zu gefallen, sondern es geht um die größte Not und
den größten Ernst, die ebensowohl dem Evangelium wie dem
Gesetz gegenüber Gehorsam fordern, sofern die Seele errettet
werden soll. Das Evangelium befiehlt: ,,Ruhe von deiner
Arbeit!" Ruhe und laß dich überzeugen, daß du ein ganz
verlorener Sünder bist, dem jetzt aus dem Sündenelend
aufgeholfen werden muß, so wie du bist. Wenn du dann selig
und heilig aus lauter Gnade und froh und frei in deinem
Herzen geworden bist, dann, und nur dann kann Kraft und
Frucht des Glaubens erwartet werden.