Philipperbrief

Phil 3,12 W.Nee Ich jage ihm nach, ob ich es auch ergreifen möge, in dem ich von Christus ergriffen bin. Philipper 3,12

Kein Herr hat so viele Diener wie unser Herr; und für jeden hat er eine angemessene Arbeit. Auch die kleine Magd war zur Stelle, um vor Naeman, als er dessen bedurfte, Zeugnis abzulegen. Viele unter uns sind allerdings unzufrieden mit der Stellung, die Gott ihnen zugewiesen hat, und murren. Wir selber täten gern dieses, aber Gott will von uns jenes; wir haben den Ehrgeiz, ihm hier zu dienen, aber Gottes Plan liegt woanders. Wen wir vor solchen Divergenzen stehen, sollten wir bedenken, daß Gottes Absichten mit uns bis vor unsere Bekehrung zurückgehen; schon ehe wir geboren waren, hat er in seiner Voraussicht unsere Lebensumstände bereitet und unseren Weg bestimmt. Gott tut nie etwas unvermittelt; immer hat er alles schon seit sehr, sehr langem vorbereitet. Bei dem, wozu Gott uns beruft, gibt es weder einen Grund zum Murren noch zum Stolzsein. Ebensowenig brauchen wir andere Menschen zu beneiden, denn deren Vorzüge haben nichts mit uns zu tun. Wenn wir auf unser Leben zurückblicken, können wir uns nur neigen und dankbar erkennen, daß alles von Gott vorbereitet und gefügt war. Wir brauchen keine Angst zu haben, es sei uns etwas entgangen. Diese Gewißheit gibt wahre Ruhe.





C.Eichhorn Nur nicht sich fertig dünken! Nicht, daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei. Ich jage ihm aber nach, ob ich's ergreifen möchte. Phil. 3, 12

Genau übersetzt lauten die Worte: "Nicht, daß ich schon vollendet bin." Zu den Vollkommenen rechnet sich der Apostel (Vers 15). Aber vollendet ist er noch nicht. Er befindet sich noch nicht am Ziel. Er hat das künftige Kleinod noch nicht in der Hand, sondern noch einen Weg vor sich. Er ist noch im Lauf und im Kampf begriffen. Vor seiner Seele steht die furchtbare Möglichkeit, verworfen zu werden (1. Kor. 9, 27). Es liegen noch Proben vor ihm, vor allem die Hauptprobe, das Lebensende, das für ihn der Märtyrertod war. Er hat in der Schule seines Heilandes noch nicht alle Lektionen durchgemacht. Es gibt auch für ihn noch zu lernen (2. Kor. 1, 9). Vollkommen sollen wir sein, aber nicht fertig, solange wir im Leib leben. Man begegnet öfters Christen, die etwas Fertiges an sich haben. Wenn man sie hört, hat man den Eindruck, als seien sie über alle Schwierigkeiten hinweg. Das ist kein Zeichen von Reife, sondern von Unreife. In den ersten Gnadentagen ist man in der Tat wie hinübergehoben über die Versuchungen und Hemmnisse. Leicht bildet man sich dann allzuviel ein. Im Lauf der Zeit regen sich die alten bösen Neigungen und Leidenschaften oft viel stärker als im unbekehrten Zustand. Dann muß man schmerzlich innewerden, daß man noch lange nicht am Ziel ist, sondern in heißem Kampf steht. Eine Frau, die in schwere innere Dunkelheit geraten war, erzählte mir, sie habe nach ihrer Bekehrung gemeint, das Beten sei nun überflüssig. Eben dies war der Grund der inneren Verfinsterung, die über sie kam. Nein, wer von Jesus ergriffen worden ist, muß immer neue und tiefere Erfahrungen von seiner Lebensmacht, aber auch von seinem Sterben machen. Des Apostels beständiges Bemühen war, allezeit in Christo erfunden zu werden. Die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden möchte er immer tiefer erkennen und seinem Tod gleichförmiger werden durch ein gründliches Absterben des alten Menschen. Er hat den Heiland, um ihn immer völliger zu ergreifen, in ihn hineinzuwachsen und ihn zu besitzen. Was er ist, wird er täglich auf's neue. Im Glauben sind wir gerecht, rein und heilig in Christo. Wir haben alles in ihm. Aber wir überblicken unseren Besitz noch lange nicht völlig. Noch weniger machen wir schon den ganzen Gebrauch von ihm. Da gilt es fortzuschreiten von Stufe zu Stufe. Das wahre Christentum ist ein merkwürdiges Ineinander von Ruhe und Bewegung. Man ruht in der Gnade und in der Gewißheit des Kindesstandes. Aber zugleich schreitet man unablässig vorwärts und legt niemals die Hände in den Schoß, macht die Gnade nicht zu einem Ruhekissen. Wer sich zur Ruhe setzt, wird bald verarmen. Wenn wir auch durch Übung und anhaltende Treue zur Überwindung der Sünde kommen, liegt doch immer noch vor uns ein weites Gebiet, das wir noch nicht durchmessen haben. Es ist das Gebiet der Liebe. Wer wird da fertig? Wer bleibt nicht immer Schuldner?





W.MacDonald »Nicht daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollendet sei.« Philipper 3,12

Gestern sahen wir, daß unser Verhalten unserem Bekenntnis entsprechen sollte. Um dieses Thema aber ausgewogen darzustellen, müssen wir noch zwei Anmerkungen hinzufügen.

Zuerst müssen wir einsehen, daß wir die Wahrheit Gottes niemals vollständig und vollkommen ausleben werden, solange wir in dieser Welt sind. Auch wenn wir unser Bestes gegeben haben, müssen wir immer noch bekennen, daß wir unnütze Knechte sind. Doch dürfen wir diese Tatsache nicht als Entschuldigung für Versagen oder gar Mittelmäßigkeit gebrauchen: Wir sind verpflichtet, die Kluft zwischen unseren Lippen und unserem Leben ständig mehr und mehr zu schließen.

Eine zweite Überlegung ist dies: Die Botschaft ist immer größer als der Bote, wer immer dieser auch sei. Andrew Murray sagte: »Wir werden als Diener des Herrn früher oder später auch einmal Worte predigen müssen, die wir selbst nicht immer zu verwirklichen in der Lage sind.« Fünfunddreißig Jahre, nachdem er das Buch »Bleibe in Jesus« verfaßt hatte, schrieb er: »Ich möchte, daß Sie verstehen, daß ein Prediger oder christlicher Autor oft geführt sein kann, mehr zu sagen, als er selbst erfahren hat. Ich hatte damals nicht all das erfahren, wovon ich schrieb. Ich kann auch jetzt nicht sagen, daß ich es schon alles erfahren habe.«

Die Wahrheit Gottes ist gewaltig und erhaben. Sie ist so unendlich hoch, daß wir, wie Guy King schreibt, »Angst haben müßten, sie durch unsere Berührung zu verderben«. Aber muß sie für immer ungepredigt bleiben, nur weil wir ihre erhabenen Gipfel nicht erreichen? Nein, im Gegenteil, wir verkündigen sie, auch wenn wir dadurch das Urteil über uns selbst sprechen. Das Ausmaß, in dem wir mit unserer Erfahrung hinter ihr zurückbleiben, machen wir dann zum beständigen Sehnen und Trachten unserer Herzen.

Noch einmal müssen wir betonen, daß wir diese Überlegungen niemals als Entschuldigung für ein Betragen, das des Herrn unwürdig ist, hernehmen dürfen. Aber sie sollten uns von ungerechtfertigter Verurteilung eines echten Mannes Gottes abhalten, nur weil seine Botschaft manchmal in Höhen stürmt, die er selbst nicht erreicht hat. Und sie sollten uns davor bewahren, mit dem ganzen Ratschluß Gottes zurückzuhalten, auch wenn wir ihn nicht in seiner ganzen Tiefe und Höhe erfahren haben. Gott kennt unsere Herzen. Er weiß, ob wir praktizierende Heuchler sind oder leidenschaftlich nach Höherem streben.





C.O.Rosenius Nicht, daß ich es schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei. Phil. 3, 12.

Dr. Swebelius sagt: ,,Das Gesetz ist von Natur einigermaßen erkannt, das Evangelium aber ist ein Geheimnis, das aller Vernunft verborgen ist." Dr. Luther sagt: ,,Das Evangelium ist der Christen allerschwerste Kunst und höchste Weisheit, worin sie ihr ganzes Leben lang Schüler verbleiben; aber ,,doch widerfährt demselben eben die leidige Plage, daß keine Kunst leichter und so bald ausgelernt zu sein scheint als diese, daß, wenn jemand es einmal gehört oder gelesen hat, wähnt er gleich, Meister und Doktor darin zu sein, und will nun etwas anderes, etwas Neues hören."

Solche eingebildeten Vollgelehrten sollten sich darin wiedererkennen, daß sie nicht oft an das Evangelium denken und nicht bedenken, wie sie Gott und den, den Er gesandt hat, sowie die großen Geheimnisse der Versöhnung immer besser kennenlernen könnten. Auch trachten sie nicht danach, etwas davon zu hören oder zu lesen und dabei Gott um das Licht des Geistes zu bitten, sondern im Gegenteil, wenn etwas recht Evangelisches vorkommt, dann warten sie mit einer gewissen Ungeduld auf den Schluß, um etwas anderes zu erhalten. Solche pflegen auch zu denken und zu sprechen: ,,Wohl weiß ich, was ich glauben soll, wohl kenne ich die Gnade Gottes, sie ist ein für allemal gegeben, mit dieser Sache ist alles wohl und gut. Aber wie wir sein und was wir tun sollen, daran gibt es genügend zu denken, da fehlt es immer, laßt uns etwas davon hören."

Nun kommen sie gerade deshalb nie zum rechten Tun, zur rechten Lust und Kraft, weil sie nie das kennenlernen, was ihnen vor allen Dingen fehlt, nämlich das Leben, die rechte Bekehrung und der rechte Glaube. Sie empfinden nicht, wie ganz verloren es mit uns und unserem Tun ist; sie sind nie recht an sich selbst verzweifelt. Auch haben sie nicht erfahren, was der Glaube besagen will, oder was der Glaube und die Gnade wirken; sonst würden sie nicht sagen, daß sie genug davon hätten. Dann würden sie, wie das Wort und die Erfahrung lehren, eher denken: Wenn ich nur Gott und Seine Gnade kenne, dann wird wohl Lust und Kraft zum Guten folgen, wie Johannes sagt: ,,Wer nicht liebhat, der kennt Gott nicht; denn Gott ist die Liebe." Kennten sie Gott, will er sagen, dann würden sie wohl lieben, ja, brennend werden vor Liebe und Gottesfurcht. Denn Gott ist eine so große und brennende Liebe, daß niemand Ihn kennen kann, ohne von Ihm zur Liebe entzündet zu werden. Und die Liebe ist die Mutter aller guten Werke, die Liebe ist des Gesetzes Erfüllung.

Kurz, diejenigen, welche wähnen, das Evangelium genügend erfaßt zu haben, haben noch nicht die ersten Buchstaben gelernt. Der Apostel sagt: ,,So sich jemand dünken läßt, er wisse etwas, der weiß noch nichts, wie er wissen soll." Dies ist besonders auf die Erkenntnis des Evangeliums anwendbar. Es enthält doch viele Dinge, die mancher nicht zu glauben vermag. Wem es leicht wird, es zu glauben, der sieht gewiß nicht, was es enthält. Zwar meint er, es zu sehen und er meint es so bestimmt, daß er tausend Eide darauf schwören wollte, aber sein ganzes Wesen leugnet es. Luther sagt sehr wahr: ,,Wer sowohl recht fassen als auch glauben könnte, was das Evangelium enthält, der würde nicht mehr hier auf Erden leben können, sondern vor überaus großer Freude sterben mögen". Wahrlich, man würde nicht so kalt, so starr und ungeistlich sein, wie jene ausgelernten und satten Geister es sind. Es würde nicht so schwerfallen, Christus zu folgen, Christus zu lieben, Ihn zu bekennen und Ihm zu dienen, zu leiden und zu entsagen, wenn man das recht glaubte, was das Evangelium enthält.

Aber hier ist eine der Hauptursachen, weshalb viele, obwohl sie immer lernen, doch nie zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Jesus sprach: ,,Niemand kennt den Väter, denn nur der Sohn und wem es der Sohn will offenbaren." Wenn der Sohn es einem Menschen nicht offenbaren will, dann ist alles für denselben vergeblich. Eben vorher hatte Christus gesagt, welchen Er es nicht offenbaren wollte: ,,Du hast solches den Weisen und den Klugen verborgen," d. h. denjenigen, die meinen, daß sie nur durch ihr Studieren das Evangelium begreifen können. Viele hören und lesen das Evangelium wie eine weltliche Wissenschaft, ohne sich dabei vor Gott zu beugen; Ihm aber hat es gefallen, es solchen zu verbergen.. ,,Ja, Vater, denn es ist also wohlgefällig vor Dir." - Paulus war wohl ein Meister, das Evangelium richtig und deutlich zu erklären und auszulegen; aber er meinte nicht, daß es für das Volk genug sei, wenn es nur seine Predigten hörte und seine Briefe las, sondern er sah alles noch so ganz von der ,,Offenbarung Gottes", von ,,Seinem Mitteilen des Geistes der Weisheit und der Offenbarung" abhängen, daß er Gott unausgesetzt für seine Gemeinden anrief. Es gibt Menschen, die nie nötig haben, Gott so anzurufen und sich vor Ihm zu beugen, die auch nicht fleißig und angelegentlich im Worte Gottes nach der Erkenntnis des Evangeliums suchen, sondern schon genug im voraus wissen; während doch die größten Heiligen und Glaubenshelden trotz ihres vielen Studierens und Betens bekannt haben, daß sie es noch nicht vollkommen ergriffen hätten, vielmehr demselben nachtrachteten. Wie hängt dies alles zusammen? Ja, wie anders, als daß diese, Ausgelernten, die alles genügend zu verstehen meinen, vom Teufel bezaubert, blind und tot sind und jetzt erst die ersten Buchstaben lernen müssen. Möchten sie das beizeiten bedenken!

Wie schwer ist's auszulernen, Was hier auf Erden ist; Im Nahen und im Fernen, Was ihr Gelehrten wißt! Doch ist nicht auszugründen, Wie schwer die Schule fällt, Das edle Nichts zu finden, Das Nichts, das Gott erwählt.