Phil 2,27
S.Keller
Phil. 2, 27: «... auf daß ich nicht eine Traurigkeit über
die andere hätte.»
Ist das derselbe Mann, der da schreibt: Freuet euch in dem
Herrn allewege ...? Und hier verrät er, daß er schon so
manche Traurigkeit erlebt habe und durch die Genesung des
kranken Freundes in schwerer Zeit nur noch an dem Geschick
vorbeigekommen sei, eine Traurigkeit über die andere zu
haben. Dergleichen Menschliches macht uns die Bibel so lieb.
Ihre Helden haben Fleisch und Blut wie wir. Es geht auf und
nieder; wie der Eimer bald tief hinunter in den dunklen
Brunnen muß, dann wieder heraufgewunden wird, um den Segen,
den er da unten geholt, zur Labe anderer zu spenden. So
taucht der Herr seine Leute in dunkle Tiefen der Traurigkeit.
Sie wissen nicht gleich warum? Es tut weh, und wir fürchten
uns, im dunklen Wasser zu ertrinken. Aber da gibt's wieder
einen Ruck an dem Seil der Brunnenwinde und es geht aufwärts.
Oben zeigt sich's, daß wir nicht vergeblich in jener Tiefe
waren. Es ist etwas Neues an Kraft oder Erkenntnis oder
Erfahrung aus jenen traurigen Stunden mit ans Licht gebracht
worden, woran sich andere den Glauben können stärken lassen.
So kann die Traurigkeit ihre besondere Kraft und ihre geheime
Frische verleihen, die es ohne dunkle Tiefen nicht gegeben
hätte.
Herr, du bist weise und gerecht in all deinem Tun, und wir
wissen nichts! Vergib uns die Zaghaftigkeit der dunklen
Stunden und daß wir es so oft vergessen, was für Segen sie
uns und andern schon gebracht haben. Amen.