Röm 12,19
C.O.Rosenius
Rächet euch selbst nicht, meine Liebsten, sondern gebet Raum
dem Zorn (Gottes). Röm. 12, 19.
Hier stellt der Apostel den gerechten Zorn Gottes und Seine
Rache unserer gottlosen Selbstrache gegenüber. Er deutet
dadurch an, daß Gott, wenn wir Ihn unseren Beschützer sein
lassen, in allen Dingen für uns sorgen, alles uns zugefügte
Unrecht rächen und uns Recht verschaffen will. Wenn wir uns
aber selbst rächen, sind wir Ihm zuvorgekommen, haben Ihm die
Sache aus der Hand genommen - und müssen dann uns selbst
helfen. Dies wird dadurch ausgedrückt, daß der Apostel
Gottes Rache unserer Rache entgegensetzt und sagt: ,,Rächet
euch selbst nicht, sondern gebt Raum dem Zorn (Gottes)." Er
sagt nicht, daß unser erlittenes Unrecht nicht gerächt werden
würde, sondern er will nur, daß Gott, der Herr, Sein
Majestätsrecht behalte, der Richter aller Menschen zu sein,
so daß wir uns nicht durch die Selbstrache in Sein Amt
eindrängen dürfen. Er will der alleinige König und Richter
Seiner erschaffenen Wesen sein und bleiben!
Denn es steht geschrieben: ,,Die Rache ist Mein, Ich will
vergelten, spricht der Herr." Diese Worte des Herrn müßten
gewiß für immer allen unseren Rachegelüsten ein Ende machen.
Denn wenn der große Gott unser Rächer sein will, dann müßten
wir mit Recht vor Seinem Zorn so erbeben, daß unser Zorn in
inniges Erbarmen und in herzliche Fürbitte verwandelt würde.
Wir sehen, mit welch großer Liebe Gott Seine Freunde und
Kinder liebt. Es heißt: ,,Wer euch antastet, der tastet
Gottes Augapfel an". Wir sehen, mit welch brennendem Eifer
Er sie bewacht, so daß der Herr Jesus versichert: ,,Eure
Haare auf dem Haupte sind alle gezählt", (was auch enthält,
daß Gott die verborgenste Unbarmherzigkeit und Bosheit, die
jemand uns zufügen kann, beachten wird). Außerdem wissen
wir, wie schrecklich es zugeht, wenn der Herr zürnt und
straft. Infolgedessen müssen wir still werden und flehen:
,,Gott sei uns allen gnädig! Vergib uns unsere Schuld, wie
wir unseren Schuldigern vergeben." Denn wenn Gott diejenigen
heimsucht, die dir Unrecht und Böses zufügen, dann geht es
etwas böser zu, als du es vielleicht gewünscht hättest. Wir
dürfen nie vergessen, daß derjenige, der uns unverdientes
Leiden zufügt, dies nicht nur uns, sondern in noch höherem
Grade Gott, dem Herrn, tut, der viel herzlicher für uns
sorgt, als wir selbst für uns sorgen; und dann ist dein
Bedrücker sogleich unter dem Zorn Gottes, und Ihm wird er
nicht entfliehen können; denn Ihm ist noch kein Mensch
entflohen.
Das Gewisse ist dieses: Die Sünde wird nicht zu einem Nichts,
dafür werden Gottes hohe Vollkommenheiten sorgen. Die Sünde
wird immer in irgendeiner Weise den Sünder treffen, entweder
hier in der Zeit in der Bekehrungsfrage und der Sorge um
das Teilhaftigwerden des Leidens Christi oder aber in dem
Erleiden der Strafe und der Rache. Kommt der Sünder hier in
der Zeit zur Bekehrung und zum Teilhaftigsein des Leidens
Christi für die Sünde, dann entgeht er der Gefahr, die rechte
Strafe der Sünde zu erleiden, weil der Herr Christus sie
erlitten hat. Aber das Leiden der Reue und der Züchtigung
wird der Sünder doch haben.
Wenn dies dagegen nicht geschieht, wird ihn der Zorn Gottes
treffen. Dies geschieht hier oft in einer solchen Weise, daß
wir es nicht als Strafe für die Sünde betrachten, z. B.
wenn es etwa durch gewöhnliche Unglücksfälle, durch
Krankheit, Feuersbrunst, Wassernot oder dergl. erfolgt.
Zuweilen aber geschieht es auch so, daß wir die gerechte
Rache Gottes darin erblicken können, wie z. B., wenn ein
Mann, der die Schwachen, die Witwen und Waisen bedrückt und
sich ungerechterweise das Eigentum anderer angeeignet hat,
durch besondere Unglücksfälle heimgesucht wird und in
äußerster Armut und tiefstem Elend endet; oder wenn
derjenige, der die Menschen lästerte, verriet und belog und
ihnen ihren guten Ruf raubte, selbst in offenkundige Schande
und Unehre fällt; oder wenn derjenige, der den Mitmenschen
schwere Herzenswunden zufügte, ja, lebenslängliche Sorgen
bereitete - ohne den Händen der irdischen Gerechtigkeit
überliefert werden zu können -, in unerträglicher, stummer
Schwermut, im Wahnsinn oder im Selbstmord endet usw. Und
wenn der Herr nicht hier die Missetaten rächt, dann wird
Seine gerechte Rache in der Ewigkeit, im ,,zukünftigen Zorn"
über sie alle kommen.
Wie wolltest du nun deinem Feind zürnen, wie würdest du
weiter gerächt werden wollen oder etliche böse Gedanken und
Wünsche gegen ihn hegen, wenn du weißt, daß ein so gewaltiger
Zorn Gottes bereits auf ihm lastet? Müßtest du nicht von
herzlichem Mitleid ergriffen werden und für ihn beten, daß
er zur Bekehrung kommen möchte? Solches müssen wir tief
bedenken, wenn der große Gott sagt: ,,Die Rache ist Mein,
Ich will vergelten."
Dies stellt uns der Apostel dar, um unsere starke Neigung zur
Bosheit und Selbstrache recht ernstlich zu hintertreiben und
zu unterdrücken. Und dies müßte genügen, alle diejenigen,
die selbst aus lauter Barmherzigkeit leben und jeden
Augenblick der Geduld Gottes bedürfen, zu bewegen, gegen
einen sich an ihnen versündigenden Mitknecht weder die
geringste Rache noch den geringsten Unwillen zu beweisen.
Ihr Menschen, hört, der Herr der Welten
Spricht selbst zu uns: ,,Die Rach' ist Mein;
Ich bin der Herr, Ich will vergelten,
Will Richter alles Bösen sein!"
Hört, was der Allvergelter spricht,
Und greift Ihm nicht in Sein Gericht.