Röm 12,3
S.Keller
Röm. 12, 3: «... daß niemand hinaustrachte über das,
was er beanspruchen darf ...»
Ach ja, das Hinaustrachten über die Grenze. Wie viel
Herzeleid und Unrecht hat das schon eingebracht! Der eine
will geistig mehr scheinen, als er ist, unternimmt und
verspricht zuviel, und dann langt es nirgends, seine Blöße zu
decken. Verzweifelte Anstrengung, die doch nicht zum Ziele
führt, verstimmt ihn, und jetzt wird er ungerecht gegen die
andern, die Erfolg und Ehre erreichten. Auf dem Boden der
inneren gläubigen Erfahrung geht es ganz ähnlich. Man
trachtete hinaus über das Maß, das der Herr in unserer
Begabung, unserer Stellung oder Lebensführung uns mit
Glauben gefüllt hatte. Nach glänzenden Beispielen besonderer
Glaubenshelden wollte man auch wachsen, wachsen ...! Das
gibt eine Aufgeblasenheit, eine Anstrengung, frömmer, größer
zu scheinen als man ist, wo man sich der Unwahrheit gar nicht
bewußt ist, weil man ja innerlich sich nach solchem Wachstum
sehnt, vielleicht sogar ungeduldig darum betet. Was ist es
dagegen für eine schöne, stille, starke Sache, wenn einer
seine Grenze erkannt hat und lieber im engen Kreis etwas
Ganzes und Kerniges werden will, als nach hohler Größe
trachten.
Herr Jesus, du Meister meines Lebens, zeige mir doch allezeit
meine Grenzen. Behüte mich, nach irgendeiner Seite über das
hinauszutrachten, was du für mich vorhergesehen, als du mich
geschaffen hast. Das Trachten macht krank. Mache du mich
gesund, Herr Jesu! Amen.
C.O.Rosenius
Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, Jedermann
unter euch - daß niemand weiter von sich halte, denn sich's
gebührt zu halten. Röm. 12, 3.
Der Apostel schrieb den Brief, in dem diese Worte vorkommen,
,,allen, die zu Rom waren, den Liebsten Gottes und berufenen
Heiligen". Er fügt noch hinzu: ,,Jedermann unter euch".
Daraus merken wir seine besondere Absicht, auf jeden Christen
einzudringen und es auszusprechen, daß ein jeder diese
Warnung nötig habe und daß kein einziger sich der Versuchung
zum Hochmut überhoben halten dürfe. Daneben wird die große
Schädlichkeit dieser Versuchung angedeutet, da der Apostel
nicht will, daß auch nur ein einziger diese Ermahnung an sich
vorübergehen lasse.
Zu hoch von sich selbst zu denken, von seinen Gaben und
Kräften zu hohe Vorstellungen zu hegen, also von dem
Hochmutsgeist betört zu werden, das ist jenes gefährliche
Übel, vor dem der Apostel hier warnt. Und um noch genauer zu
sehen, was er an dieser Stelle im Auge hat, muß man den
Zusammenhang zwischen diesem und den folgenden Versen (4-8)
beachten, in denen er die Verschiedenheit der geistlichen
Gaben und deren rechten Gebrauch in der Gemeinde entwickelt.
Dabei bemerkt er, daß alle Gläubigen zusammen ein Leib sind
und untereinander einer des anderen Glied ist, weil sie
verschiedene Gaben haben. Der Apostel meint damit, daß wir
wegen der verschiedenen Gaben uns weder absondern noch
erheben oder andere verachten dürfen, sondern in der
Einigkeit des Geistes und in Demut und Liebe verbleiben
müssen.
Wenn wir nun die Ermahnung des Apostels auch soweit
verstanden haben, so haben wir damit doch noch nicht die
Sache selbst. Hier ist noch Gottes besonderes Erbarmen
nötig, wenn jemand dem entgehen soll, zu hoch von sich zu
denken und durch die mächtige, gefährliche Neigung zum
Hochmut ganz unglücklich zu werden. Denn diese Versuchung
ist in aller menschlichen Natur so aufdringlich und in ihren
Erscheinungen so mannigfaltig, daß ein Christ, der dieses
verstanden hat, nur rufen und beten möchte: ,,Gott, erbarme
Dich!" Kein Mensch ist frei von dieser Neigung. Sie liegt in
der Natur selbst. Wir finden sie schon bei kleinen Kindern,
indem diese oft schon zeitig anfangen, gegeneinander zu
prahlen und sich zu rühmen: ,,Ich kann dies oder jenes besser
tun als du" usw. Ja, wir wissen, daß der gefallene Engel im
Anfang vor allem Eigenliebe und Hochmut auf den Menschen
übertrug, indem er sagte: ,,Ihr werdet sein wie Gott." Sodann
finden wir diese Natur sich auch so den Menschen aufdrängen,
daß kaum ein Christ still in seiner Unbemerktheit beharren
kann, weil jeder hoch hinaus möchte. Auch da, wo man keinen
natürlichen Anlaß sehen kann, nämlich bei Menschen, die ganz
geringe Gaben und Vorzüge haben oder die vielleicht, wie
man sagt, sogar beschränkt sind, treten oft seltsame
Hochmutserscheinungen hervor. Es ist darum höchst
erstaunlich zu sehen, wie tief diese Neigung in der
Menschennatur liegt.
Kannst du nun nicht durch das Wort und den Geist Gottes in
der Demut, in geistlicher Armut und in der Furcht gehalten
werden, sondern fängst du stattdessen an, hohe Gedanken von
dir zu hegen, indem du meinst, daß du vor anderen erleuchtet,
weise, treu, ernst, fromm, fähig und tüchtig wärest, so sei
dessen gewiß, daß du gestürzt werden, in allerlei Torheiten
oder in Sünde und Schande fallen wirst. Dagegen werden weder
Wachsamkeit noch Stärke helfen. Christus sagt ausdrücklich:
,,Die Ersten werden die Letzten sein." Und abermals spricht
Er: ,,Wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden."
Petrus erklärt, wie dies zugeht: ,,Denn Gott widersteht den
Hoffärtigen." Wenn Gott dir widersteht, so versuche nie,
glücklich vorwärtszukommen. Was du auch tun wirst, du wirst
gestürzt werden. Wenn du dich allen anderen gegenüber für
erleuchteter und weiser hältst, dann wirst du auch vor allen
in Irrtümer und Torheiten fallen. Wenn du dich für frömmer
und stärker als andere hältst, dann wirst du auch in größere
Sünde und Schande fallen als andere.
Wie viele verheißungsvolle junge Menschen werden nur durch
den Hochmut für das ganze Leben verdorben! Wie mancher
begnadete Christ fiel in die größten Torheiten nur dadurch,
daß er von der Schmeichelei und Selbstgefälligkeit
eingenommen wurde. Das ist durch alle Erfahrungen im kleinen
und großen so offenkundig, daß die ganze Welt zu sagen weiß:
,,Hochmut kommt vor dem Fall!"
Hier hilft nichts anderes, als daß du dich beizeiten warnen
läßt und anfängst, den großen, allmächtigen Gott unaufhörlich
anzurufen und anzuflehen, daß Er sich deiner erbarme und dich
im Geist demütig und arm mache. Dieses Gebet will Er gern
erhören. Kannst du durch das Wort und den Geist keinen
demütigen Sinn erhalten, dann hat der Herr noch das Mittel,
daß Er dir eine dich tief demütigende Erfahrung zusendet.
Halte es dennoch für eine hohe Gnade, wenn du nur im Glauben
verbleiben kannst; denn dann ist alles gnadenvoll dem
gegenüber, im Hochmut zu enden und unter die Letzten
gerechnet zu werden. - Gott, sei uns gnädig und laß lieber
alles andere uns treffen, nur nicht das Gericht des Hochmuts
und der Verstockung!
Wandersmann hienieden,
Achte, was geschrieben:
Nur als arm, als klein
Wir die Gnad' erfahren.
Gott, dem wunderbaren,
Lob und Ehr allein!
Wirst du selbstzufrieden,
Bist du schon geschieden
Vom Herrn Jesu Christ.
Nur die ganz Elenden
Suchen und anwenden,
Was gegeben ist.