Röm 5,20
D.Rappard
Wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch die
Gnade viel mächtiger geworden.
Röm. 5,20.
O wie mächtig ist die Sünde geworden in manchem Leben!
Was hat z. B. die Trunksucht schon für Verderben angerichtet!
Was haben Neid und Selbstsucht in das eigene Herz
und Leben und in das der Angehörigen für Leid gebracht!
Manchmal erkennt die Seele die Knechtschaft, in der sie steht,
und sucht los zu werden. Aber es gelingt nicht. Ach, d i e
S ü n d e i s t e b e n e i n e M a c h t.
A b e r d i e M a c h t d e r G n a d e i s t n o c h
g r ö ß e r. Nicht nur nimmt sie den beflecktesten Sünder
an und macht ihn schneeweiß im Blute des Lammes, sondern sie
erneuert sein Leben, sie löst seine Ketten und macht den einstigen
Sklaven zu einem seligen, freien, siegreichen Gotteskind.
Hallelujah! Die Siegeswaffe im Kampf gegen die mächtig sich
regende Sünde ist das Erfassen der übermächtigen Gnade.
In die tiefe, dankbare Freude, die wir empfinden, mischt
sich aber Schmerz und Scham. Offenbart sich in mir die Macht
der Gnade in dem Maß, wie sich einst die Macht der Sünde erwies?
Wie konnte einst der Zorn so mächtig auflodern in meiner
Seele! Ist die Liebe jetzt ebenso mächtig? O, daß die Kinder
der Gnade ihr seliges Vorrecht recht erkennten!
Du Siegesfürst, überwinde auch in mir alles,
was sündlich ist. Deiner mächtigen Gnade anvertraue ich mich
auch für diesen Tag.
C.O.Rosenius
Das Gesetz aber ist nebeneingekommen, auf daß die Sünde
mächtiger würde. Wo aber die Sünde mächtig geworden ist, da
ist doch die Gnade viel mächtiger geworden. Röm. 5, 20.
Hier hilft nichts anderes. Der Mensch kann nie dazu gebracht
werden, dem Sündentilger recht zu huldigen, wenn er nicht
von der Sünde und vom Gesetz gejagt und dazu gezwungen
wird. Gott ist versöhnt. ,,Er will unserer Sünden und
Ungerechtigkeit nicht mehr gedenken". Sein erbarmendes
Herz brennt vor Liebe zu Seinen Teuererkauften. Wie schwer
aber können sie errettet und dazu bewogen werden, zu den
Freistätten zu fliehen, wenn sie nicht von dem Bluträcher,
dem Gesetz, gejagt und getrieben werden. Deshalb muß Er uns
immer mit den Geboten und Urteilen des Gesetzes plagen,
ängstigen und ermüden. Joseph brannte vor Liebe, als seine
Brüder nach Ägypten kamen, und er beschloß sogleich, ihnen
Gutes zu tun, wenn er auch durch seinen Dolmetscher ,,hart
mit ihnen redete" und sie binden, gefangennehmen,
erschrecken und betrüben ließ, um ihre harten Herzen zu
erweichen. So muß der Herr auch uns durch Seinen Diener und
Dolmetscher Mose erschrecken, gefangennehmen, zwingen und
betrüben; aber - ,,Er betrübt die Menschen nicht von Herzen".
Alles, was das Gesetz sagt, das sagt es, auf daß ,,aller Mund
verstopft werde und alle Welt Gott schuldig sei", auf daß die
Sünde ,,überfließt". Wie das Überfließen der Sünde von dem
Gesetz bewirkt wird, zeigt der Apostel Röm. 7; er macht
deutlich, daß das Gesetz uns nicht nur wie ein Spiegel
die Sünde zeigt, sondern daß es durch das Verbot auch die
schlummernde Sünde zur Wirksamkeit und zum Streit erregt, auf
daß sie nicht verborgen liege und der Sünder sich nicht als
sündenfrei ansehen solle. ,,Ich lebte bisher ohne Gesetz,
und da war die Sünde tot. Da aber das Gebot kam, ward die
Sünde wieder lebendig und erregte in mir allerlei Lust."
Der Sünder, der zuvor so selbstzufrieden, sicher, stolz und
tugendhaft war, ist jetzt so elend und jämmerlich, ohnmächtig
und ratlos, daß ihm die ganze Welt zu eng wird. Nun wird das
früher so geliebte Sündenleben bitter, das fremde Land öde,
das Vaterhaus lieblich, ja, sogar der Tagelöhnerdienst
daselbst erwünscht.
O, wieviel Gutes kommt aus dem kläglichen Überfließen der
Sünde! Und das wird nicht durch Gesetzlosigkeit, sondern
durch das Gesetz bewirkt. Dazu ist es gut, aber nicht, um
den Menschen fromm zu machen. Beachte und bedenke es ein für
allemal! ,,Das Gesetz ist nebeneingekommen, auf daß die
Sünde mächtiger würde" - nicht überwunden, sondern mächtiger.
Gerade, wenn du besser werden willst, wirst du schlechter;
wenn du angenehm und heilig werden willst, wirst du
unangenehm, die Sünde fließt über. Du willst Gott lieben,
und du fühlst Haß, wenigstens eine unerträgliche Kälte. Du
willst mild und sanftmütig sein, stattdessen kocht die
Bitterkeit in dir. Du willst in deinen Gedanken und in
deinem Herzen rein sein, und es ,,wird allerlei Lust in dir
erregt." Du willst zerschlagen und demütig sein, bist aber
steinhart, starr und voller Hochmut. Gerade das meint
Paulus, wenn er sagt: ,,Es befand sich, daß das Gesetz mir
zum Tod gereichte, das mir doch zum Leben gegeben war ...,
auf daß die Sünde würde überaus sündig durchs Gebot." Gerade
das aber ist die rechte Wirkung des Gesetzes, wenn es das
Herz trifft.
Nun scheint es aber gar zu widersinnig und gewagt, inmitten
einer solchen Sündennot Gnade anzunehmen. Deshalb krümmt der
Mensch sich nach allen Seiten und sucht Auswege. Hat das
Gesetz nicht recht tief getroffen, dann kann er Erleichterung
und Trost finden in seinen eigenen Taten, seiner Reue, seinen
Gebeten, seiner Besserung, in seinem Sieg über gewisse Sünden
oder in seinem neuen religiösen Leben. So wird ein Pharisäer
gebildet. Der eine befleißigt sich äußerer Dinge, als da
sind Werke der Barmherzigkeit oder religiöse Wirksamkeit; ein
anderer sucht sein Heil in Betrübnissen, Tränen, Gebeten,
Entsagung, Demut, Absterben der Welt; ein dritter kann die
erweckte Bekümmernis damit stillen, daß er sich mit
geistlichem Studium beschäftigt, Erkenntnis und schöne,
klare Einsichten sammelt, ohne selbst in Wahrheit das,
was die Erkenntnis umfaßt, zu besitzen und zu genießen.
Jetzt ist die rechte Zeit für das Strafamt des Geistes. Alle
diese Heiligen soll Er strafen ,,um die Sünde, daß sie nicht
glauben an Mich." Er soll jetzt offenbaren, daß, wenn sie
endlich alles getan haben, was ein Sterblicher tun kann, wenn
sie ihre Sünden bereut haben, so daß sie hätten Blut weinen
können, wenn sie Tag und Nacht auf ihren Knien gebetet haben,
wenn sie auf das strengste ihren Leib gepeinigt haben, ,,bis
aufs Blut gegen die Sünde kämpfend", wenn sie ihren Augen zu
sehen, ihren Ohren zu hören, ihrer Zunge etwas Nichtiges zu
reden, ihrem Mund etwas Überflüssiges zu schmecken und ihrem
ganzen Körper es zu genießen verboten haben, wenn sie ihr
ganzes Eigentum den Armen gegeben und jede Lebensstunde zum
Wohl des Nächsten angewendet haben, wenn sie geweissagt
und im Namen Jesu viele Taten getan haben -, dann wird
der Herr mit Wunden an Händen und Füßen und in der Seite
sie verfluchen und sprechen: ,,Weicht alle von Mir, ihr
Übeltäter!" - ,,Um die Sünde, daß sie nicht glauben an
Mich." Der Geist soll offenbaren, daß sie mit ihrer ganzen
Heiligkeit in die äußerste Finsternis geworfen werden sollen,
weil sie nicht mit dem hochzeitlichen Kleid der Gerechtigkeit
angetan sind, weil sie nicht ihren einzigen Trost in dem
blutigen Heiland auf Golgatha gehabt, nicht den Tausch mit
Ihm gemacht haben, der ihre Sünden getragen hat, damit sie
Seine Gerechtigkeit empfingen. Beachte: Wenn Seine Taten
nicht deine Taten, wenn Seine Reue, Seine Gebete, Sein Leiden
und Tod nicht die deinigen sind, dann bist du ewig verloren.
Herr, lehr mich, das alles verloren in mir,
Doch auch, daß alles vollbracht ist in Dir;
Ja, auf ewig!