Röm 3,23
C.O.Rosenius
Es ist hier kein Unterschied; sie sind allzumal Sünder und
mangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten. Röm. 3,
23.
Wie soll man diese Worte eigentlich verstehen? - Es lautet
doch recht ungereimt, daß hier kein Unterschied sein sollte,
da wir ja mit den Augen sehen, daß der Unterschied im
Gegenteil recht groß ist, indem der eine Mensch frei in aller
Sünde lebt, während der andere jeden Tag ein wachsames Leben
führt.
Antwort: Beachte wohl, um was es sich hier handelt! Hier ist
ja nur die Rede von der Gerechtigkeit vor Gott, von dem
,,Ruhm" in bezug auf das Erwerben der Seligkeit. Nur in
dieser Frage hört aller Unterschied zwischen mehr oder
weniger Sünde auf. Handelt es sich dagegen um das, was von
unseren Werken abhängt, nämlich um verschiedene Grade der
Verdammnis oder Seligkeit, dann sagt die Schrift eindeutig,
daß hier ein Unterschied sei; dann wird einerseits von
,,erträglicher" und ,,unerträglicher" geredet, und
andererseits davon, daß ,,der eine Stern den anderen
übertreffe nach der Klarheit". Sobald es sich aber um die
Gerechtigkeit und den Ruhm vor Gott handelt, wie hier, ist
sogleich ,,kein Unterschied"; denn dann reichen keines
Menschen Werke hin, dann sind wir alle so weit von der
Gerechtigkeit entfernt, daß jeglicher Unterschied dadurch
verschwindet. Sieh hier ein Gleichnis:
Wenn wir von Unebenheiten auf unserer Erde reden, müssen wir
sagen, daß zwischen den hohen Bergspitzen und den Taltiefen
ein großer Abstand sei. Sobald wir aber von der Entfernung
der Erde von der Sonne reden, ziehen wir diese Unebenheiten
der Erde nicht mehr in Betracht. Wir sagen dann nicht: Von
der Sonne zu den Bergspitzen ist es so und so weit, und von
der Sonne zu den Taltiefen so und so weit, sondern wir sagen:
Die Entfernung ist so unermeßlich, daß die Unebenheiten
der Erde nichts zur Sache beitragen - ,,es ist hier kein
Unterschied". Ebenso ist bei den Menschen gewiß ein großer
Unterschied in den Sünden und in der Frömmigkeit; da aber der
Beste so unendlich weit von der Gerechtigkeit entfernt ist,
so ist vor dem Herrn in bezug auf die Würdigkeit zum Himmel
kein Unterschied.
Wenn in einem Gefängnis, in dem eine Schar zum Tode
Verurteilter verwahrt wird, die allesamt Banditen, Mörder und
Räuber sind, diese anfangen würden, darüber zu streiten, wer
von ihnen eines Ehrenplatzes beim Könige würdiger sei, dann
würden wir sagen: ,,Ihr seid allesamt nur des Richtplatzes
würdig; hier ist kein Unterschied." Geradeso verhält es sich,
wenn wir von unseren Vorzügen in bezug auf die Gerechtigkeit
vor Gott reden. Wir sind allzumal große Missetäter, die
täglich gegen Gottes Gebote häufig sündigen. Und selbst
ernsteste Christen müssen alle Tage um Vergebung bitten und
fühlen sich des Zornes Gottes wert, wenn Er sie nach Seinem
Gesetz richten würde.
Gewiß, leider gibt es auch solche, welche meinen, etwas
viel Besseres zu sein und sich einbilden, daß sie durch die
Gnadenmittel und durch viel Gebet, Glauben, Wachsamkeit
und Ernst dahin gelangt seien, daß sie nicht mit anderen
kümmerlichen Christen verglichen werden dürften, sondern in
sich selbst gleichsam ein besonderes, heiliges Geschlecht
bildeten. Diese aber sind vom Teufel bezaubert. Wenn sie
nüchtern und wach wären, würden sie dasselbe empfinden, was
der gedemütigte David empfand, als er flehte: ,,Herr, gehe
nicht ins Gericht mit Deinem Knecht, denn vor Dir ist kein
Lebendiger gerecht." -Wenn wir von den unbekehrten Menschen
reden, sind auch ihre besten Werke nur Sünde und Heuchelei,
weil ihre Herzen im Glauben und in der Liebe nicht wohl
stehen mit dem Herrn. Wie groß der Unterschied sonst auch
sein mag - ob sie nun moralische, edle und ehrbare Mitglieder
der Gemeinschaft sind, die ihre äußeren Pflichten
gewissenhaft beobachten, sogar um Gott eifern und, obwohl
nicht weislich, sogar ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten
trachten, oder aber, ob sie freche Spötter sind, die frei in
allen möglichen Sünden und Lastern dahinleben -, beide stehen
sie unter demselben Urteil Gottes, und beide brauchen sie
dieselbe Gnade, gleichwie diese auch beiden gleich angeboten
und frei geschenkt wird, wenn sie diese zu Jesu Füßen suchen.
Hierzu hat ein alter Gottesmann gesungen:
Allerhöchste Ehrbarkeit,
Die vor Sünde stets gebebet,
Und die größte Sündigkeit,
Die in Lastern frei gelebet,
Müssen hier sich doch verbinden
Und dieselbe Gnade finden.
Der, dem mehr denn 20 Jahr
Unter Mosis Joch verflossen,
Dem es oft so sauer war,
Daß er manche Trän' vergossen,
Muß doch oft den Räuber sehen
Vor sich in den Himmel gehen.
Der, der viele Bücher las,
Viel erfahren, viel geschrieben,
Und der in dem Kerker saß,
Von der Sünde aufgerieben,
Müssen doch zu Jesu gehen
Und um gleiche Gnade flehen.
Wer sich hier mit Wort und Tat
Wider Christi Herd' versündigt,
Gleichwie der, der ihr oft hat
Manches Trostwörtlein verkündigt,
Müssen vor dem Heiland liegen
Und dieselbe Gnade kriegen.