Apg 21,28
A.Christlieb
Eine dreifache Anklage der Feinde gegen Paulus.
Apostelgeschichte 21, 28.
Die Juden, welche die Gefangennahme des Paulus veranlaßten,
erhoben gegen ihn eine dreifache Beschwerde. Sie warfen ihm
vor, er lehre wider sein Volk, wider das Gesetz, wider die
heilige Stätte des Tempels. Eine nähere Betrachtung dieser
drei Anklagepunkte wird uns erkennen lassen, daß die Feinde
des Wortes Gottes im Grunde heute noch dieselben Vorwürfe
gegen die gläubigen Christen erheben.
1. Erste Anklage: ,,Er lehrt wider dieses Volk."
Nicht zum ersten Mal hören wir in der heiligen Schrift eine
derartige Anklage gegen Knechte Gottes. Schon Jeremia und
andere Propheten wurden beschuldigt, daß sie mit ihrer
Verkündigung dem Volk schadeten (Jeremia 38, 4; Amos 7, 10).
So behaupteten auch jene Juden aus Asien, daß die Predigt des
Paulus die hohe, einzigartige Stellung Israels herabsetze.
Was sollen wir zu diesem Vorwurf sagen? Nach einer gewissen
Seite hin schien er nicht unberechtigt. Der ungöttliche und
pharisäische Nationalstolz, der vielfach in Israel herrschte,
bekam durch die Lehre des Paulus allerdings einen tödlichen
Stoß. Dieser lehrte, daß auch die anderen Völker des Heils
teilhaftig würden. Solche Lehre warf allen israelitischen
Dünkel darnieder. So hatten es die Feinde leicht, das
fanatische jüdische Selbstbewußtsein gegen die Predigt des
Paulus zu erregen. Aber wahr und lauter war dies nicht. Wer
liebte sein Volk mehr als Paulus? Wer suchte mehr das Wohl
seiner Landsleute als er? Wie ungerecht war es doch, diesem
Mann vorzuwerfen, er ,,lehre gegen sein Volk"!
Auch heute noch kann es vorkommen, daß man Knechten Gottes,
die jeden hochmütigen Nationalstolz ablehnen und die die
Notwendigkeit der Bekehrung für das eigene Volk betonen,
Mangel an Vaterlandsliebe vorwirft und ihre Verkündigung
als schädlich für das eigene Volk hinstellt.
2. Zweite Anklage: ,,Er lehrt wider das Gesetz".
Der zweite Anklagepunkt lautete, Paulus lehre gegen das
Gesetz.
Das Gesetz war die in Israel ein für allemal festgelegte
gültige Lehre. Gegen diese verstoße die Predigt des Paulus,
so lautete die Behauptung der Feinde.
Was sollen wir dazu sagen? Auch hier hatten die Ankläger in
einem Sinne recht. Wenn sie nämlich das Gesetz im Sinne der
jüdischen Schriftgelehrten auffaßten, wenn sie das Gesetz,
das ein Zuchtmeister auf Christus sein sollte (Galater 3,
24), zum Selbstzweck machten, wenn sie rein äußerlich bei den
Buchstaben und Satzungen des Gesetzes stehen blieben - was
freilich dem natürlichen Menschen am bequemsten ist -, dann
allerdings lehrte Paulus g e g e n das Gesetz. Sie wollten
das Gesetz nur so verstanden und aufgefaßt wissen, wie es bei
ihnen in der herrschenden Volksmeinung üblich war. Alles
andere war in ihren Augen eine unerlaubte Religionsänderung.
Welch ein Irrtum! Wer hat das Gesetz richtiger und tiefer
erfaßt als Paulus!? Er führte, indem er Christus predigte,
zur wahren Gesetzeserfüllung hin. Er zeigte, wie man in
Wahrheit durch die Kraft von oben den Willen Gottes tun könne
(Römer 8, 4). Wie unwahr war also diese Anklage!
Auch heute ist es unrichtig, wenn man Menschen, die an Jesus
gläubig werden, vorwirft, sie fielen von ihrer alten Religion
ab, sie brächten eine neue Lehre, die mit der hergebrachten
nicht übereinstimme. Dann wäre jeder Übergang von einer
toten Rechtgläubigkeit zu einer lebendigen Gemeinschaft mit
Jesus ein Abfall von der rechten Religion, dann hätten auch
Jesus, seine Apostel und alle wahrhaft gläubigen Christen
,,wider das Gesetz" geredet.
3. Dritte Anklage: ,,Er redet wider diese Stätte".
Der dritte Vorwurf, den die Juden aus Asien gegen Paulus
erhoben, bestand in der Behauptung, er rede gegen die heilige
Stätte des Tempels. Sie beschuldigten ihn also, daß er das
heilige Tempelgebäude, die jüdische Kirche, dieses Heiligtum
des ganzen Volkes nicht genügend würdige, sondern verachte
und bei anderen verächtlich mache. Dies war in den Augen des
jüdischen Volkes eine große Versündigung, weil der Tempel in
der Religion des jüdischen Volkes eine große Rolle spielte.
Je mehr das Volk Israel im praktischen Leben und Wandel von
Gott abwich, um so mehr suchte es seine Treue gegen Gott in
Hochachtung des äußeren Tempelgebäudes zu beweisen und
ahndete jede Herabsetzung des Tempels aufs strengste (Jeremia
7, 4).
Es lag in der Beschuldigung gegen Paulus eine gewisse
Wahrheit. In der Tat wich die Auffassung des Apostels über
den äußeren Tempel weit ab von den Anschauungen der jüdischen
Kirche und ihren Gesetzeslehren. Paulus lehrte, daß nicht
das äußere Gebäude trotz all seiner Würde und Herrlichkeit
das wahre Heiligtum Gottes darstelle, daß vielmehr die
Gemeinde der wahrhaft Gläubigen der wahre Tempel Gottes sei,
in dem Gott wohne und wirke (2. Korinther 6, 16). Mit
dieser Lehre stritt er gegen die fast heidnische Verehrung
des äußeren Tempelgebäudes und versetzte ihr einen
gottgewollten Stoß. So schien dieser Anklagepunkt ein Recht
zu haben.
Dennoch war er falsch. Wer hielt fester am Tempel und an der
jüdischen Volkskirche als Paulus? Wer suchte überall zuerst
die Judenschulen auf, die als Ersatz des Tempels zum
Gottesdienst dienten? Wer betonte den gottgewollten Zweck
des Tempels mehr als Paulus, der Gottes Wort lauter und rein
verkündigte?
Auch heute wirft man bisweilen gläubigen Christen vor, sie
seien nicht für die Kirche und setzten die Kirche herab. Die
Geschichte des Reiches Gottes aber beweist, daß sie im
allgemeinen die treuesten Glieder der Kirche waren.
Christen, die von ähnlichen Vorwürfen getroffen werden wie
Paulus, dürfen sich dessen trösten, daß schon jener Apostel
in gleicher Weise beschuldigt wurde; sie sollen aber acht
haben, daß solche Anschuldigungen wie bei Paulus nicht
zutreffen.
A.Christlieb
Die Ankläger von Paulus begingen die drei Fehler, die sie
Paulus vorwarfen.
Die Juden aus Asien hatten Paulus vorgeworfen, er handle
gegen ihr Volk, gegen das Gesetz und gegen den Tempel. Dabei
merkten sie gar nicht, wie ihr eigenes Verhalten genau diese
drei Vorwürfe verdiente.
1. Zuerst schädigten sie ihr Volk. Indem sie die Arbeit des
Apostels zu unterdrücken suchten, nahmen sie ihrem Volk den
größten Schatz weg, den es besaß. Wer Gottes Wort hindert
und aufhält, fügt seinem Volk den größten Schaden zu, den es
gibt. Nicht die wahren Zeugen Jesu, sondern ihre Bekämpfer
und Unterdrücker sind die größten Schädiger eines Volkes.
Sie nehmen dem Volk das einzige und beste Mittel, das zu
seiner inneren Gesundung dienen kann.
2. Ferner handelten sie gegen das Gesetz. Ihr fanatischer
Haß gegen den Apostel stand im schroffsten Gegensatz wider
das ganze Gesetz, das in dem Gebot ,,Liebe deinen Nächsten
wie dich selbst" zusammengefaßt wird. Nicht Paulus, sondern
sie selbst waren ,,wider das Gesetz".
3. Auch dem Tempel schadeten sie mit ihrem Treiben. Wer die
Gläubigen aus der Kirche zu verdrängen sucht, der ist schuld
daran, daß die Kirche ihre Bedeutung und Herrlichkeit
verliert und nichts zurückbleibt, als ein öder Raum, der
seine beste Anziehungskraft verloren hat. Es hat dann und
wann Menschen gegeben, die in ungeistlicher Weise für ihr
Volk und für die reine Lehre eiferten und dabei dem Volk und
der Lehre den größten Schaden zufügten. Gott bewahre uns
alle vor solchem Irrweg. (Römer 2, 17 - 23).
A.Christlieb
Drei Fehler der Juden aus Asien, die wir bei uns selbst
wiederfinden.
Apostelgeschichte 21, 27. 28.
Beim Anblick der Männer, die Pauli Gefangennahme veranlaßten,
könnten in uns leicht pharisäische Gedanken hochsteigen. Wir
könnten im Herzen sprechen: Ich danke dir Gott, daß ich nicht
bin wie jene ,,Juden aus Asien". Deshalb wollen wir noch auf
drei Fehler jener Gegner achten, von denen wir uns selbst
nicht freisprechen können.
1. Sie schauten im Gottesdienst auf andere.
Der Tempel war nicht dazu bestimmt, fehlerhafte Mitmenschen
den Augen der anderen Tempelbesucher darzustellen.
In diesem Hause sollte Israel seinem Gott begegnen (Amos 4,
12 b). Es sollte hier die Gemeinschaft mit ihm suchen und
befestigen. Zu diesem Zweck sind auch unsere Kirchen und
Versammlungshäuser erbaut. Stattdessen richteten jene Juden
aus Asien im Tempel ihre Augen auf einen anderen Menschen, an
dem nach ihrer Meinung besonders viel auszusetzen war, auf
Paulus.
Wie leicht kann es auch bei uns vorkommen, daß unsere Augen
im Gottesdienst umherschweifen und plötzlich jemand sehen,
der nach unserer Meinung ein sehr schlimmer Mensch ist. Wenn
wir dann auch nicht wie jene Männer über denselben herfallen,
so tun wir innerlich doch dasselbe, indem wir uns über ihn
ärgern und ihn am liebsten in weite Ferne wünschten. Sind
wir nicht in solchem Falle vor Gottes Auge ebenso tadelnswert
wie jene? (Prediger 4, 17).
2. Sie störten andere in ihrer Andacht.
Wir vergegenwärtigen uns den Hergang jener Stunde der
Gefangennahme. In dem Tempel werden allerlei Leute gewesen
sein. Viele mögen sehr wenig Andacht im Herzen gehabt haben,
andere mehr. Jetzt trat plötzlich diese Szene dazwischen.
Einige Personen fielen über einen Mann her, der ein Gelübde
erfüllen wollte, erhoben ein Geschrei gegen ihn und legten
sogar die Hand an ihn. Daß es jetzt bei den Tempelbesuchern
mit aller Andacht vorbei war, ist klar. So hatten diese
Juden aus Asien anderen jede Andacht genommen und sie
gehindert, Gott anzubeten.
Wie leicht kann es auch in unseren Gemeinden und
Versammlungshäusern vorkommen, daß Menschen, die innerlich
weit über jenen Feinden des Apostels zu stehen glauben,
andere durch irgendwelches störende Benehmen in ihrer Andacht
und Aufmerksamkeit hindern. Laßt uns auch in dieser Hinsicht
nie den Feinden des Apostels gleich werden!
3. Sie urteilten lieblos über einen Mitmenschen.
Wie scharf waren doch die Zungen jener Juden aus Asien,
als sie über Paulus urteilten. Sie ließen kein gutes Haar
an ihm. Seine ganze Tätigkeit wurde von ihnen als verkehrt
und irreführend hingestellt. Gegen alle guten Seiten des
Apostels waren sie blind. Daß viele in ihrer asiatischen
Heimat durch ihn den Frieden ihrer Seele gefunden hatten und
auf einen neuen guten Weg gelangt waren, davon schwiegen sie.
Nur Schlimmes berichteten sie über ihn.
Diese ungerechte, scharfe und lieblose Art im Urteil über
einen Mitmenschen ist einer der häufigsten Fehler, der sich
immer wieder bei uns einschleichen will. Wie wahr ist die
Jakobusklage über die Zungensünden (Jakobus 3, 2 - 10). Wie
viele ,,Doegzungen" finden sich bei uns, die einem scharfen
Schermesser gleichen (Psalm 52, 4 - 6).
So wollen wir, statt uns über jene Feinde des Paulus zu
erheben, sie als Spiegel benutzen und Reinigung von den
Fehlern suchen, die bei ihnen und bei uns sich zeigen.