Apg 20,14
A.Christlieb
Der Fußweg des Paulus von Troas nach Assos
»Wir zogen aber voran auf dem Schiff und fuhren gen Assos und
wollten daselbst Paulus zu uns nehmen; denn er hatte es so
befohlen, und er wollte zu Fuß gehen. Als er nun zu uns traf
zu Assos, nahmen wir ihn zu uns und kamen gen Mitylene«.
(Apg. 20, 13. 14).
Von einer im ersten Augenblick merkwürdig erscheinenden
Reiseanordnung des Paulus reden obige Worte. Paulus
bestimmte, daß alle seine Reisegefährten den Weg von Troas
nach Assos mit dem Schiff machen sollten, während er für sich
den gleichen Weg zu Fuß gehen wollte, um nachher in Assos
wieder zu ihnen zu stoßen.
Weshalb das? Weshalb blieb er nicht bei seinen Begleitern?
Es mag ja sein, was einige Ausleger vermuten, daß er
unterwegs noch da und dort bei einem Christenhaus anklopfen
und Lebewohl sagen wollte, weil er überall Frucht zu schaffen
suchte.
Wir wollen aber nicht auf ungewisse Vermutung unsere Erbauung
gründen, sondern bei dem verweilen, was wir fest wissen,
nämlich, daß Paulus einige Stunden der Einsamkeit wählte, um
nachher wieder zur brüderlichen Reisegemeinschaft zu kommen.
Wir glauben, hier einen wichtigen Hinweis für alle Jünger
Jesu, besonders für alle, die in der Arbeit für den Herrn
stehen, zu finden.
1. Wann nahm sich Paulus diese einsame Zeit?
Nach einer Zeit besonders reichlichen und brüderlichen
Zusammenseins in Troas.
Sieben Tage hatte er dort mit den Brüdern sein Wesen gehabt.
Fast möchte man es eine Evangelisationswoche nennen. Mit
einer lieblichen, gut besuchten Versammlung, welche die
ganze Nacht dauerte, schloß diese Zeit ab, und Paulus mußte
aufbrechen. Da gerade, nach dem langen, gesegneten
Zusammensein mit den Brüdern, faßte ihn der innere Wunsch,
eine Zeitlang allein zu sein. Die Brüder waren köstliche
Leute, aber eine andere Begleitung war ihm jetzt noch
nötiger: mit Gott allein sein.
Wenn wir doch dem zarten Antrieb des Heiligen Geistes immer
folgen möchten, der uns nach den herrlichsten Konferenzen und
Versammlungen mahnt, jetzt nach dem Segen der brüderlichen
Gemeinschaft auch den Segen der Einsamkeit mit Gott zu
genießen! Paulus hatte sich - wenn wir menschlich reden
dürfen - in Troas ganz ausgegeben. Alles, was ihm auf dem
Herzen lag an Trost, Mahnung und Warnung, hatte er gesagt.
Sollte er nun die Unterhaltung auf der Reise immer weiter und
weiter fortsetzen? Dann könnte der gesalbteste Knecht Gottes
allmählich zum Schwätzer herabsinken, wenn er es so machte.
Stattdessen wechselte jetzt die brüderliche Unterhaltung mit
einer Zeit der Stille. Gleicht nicht die Arbeit manches
Christen einer viel bewegten, zum Teil überreichlich
besetzten Troaswoche? Wann kommen nun die stillen, einsamen
Fußwege nach Assos?
Sagt an, woran liegt es, daß mancher Bruder, den man früher
gern hörte, weil sein Wort voll Kraft und aus der Tiefe der
Schrift geschöpft war, jetzt mehr leere Worte bringt und an
innerer Kraft zurückgeht? Liegt es nicht am Unterlassen der
stillen Wege von Troas nach Assos?
Wie kann ein Arbeiter voll Geistes bleiben, wenn er von einer
Arbeit zu der anderen geht, ohne dazwischen wie Jesus den
einsamen Bergeshügel zu besteigen oder wie Daniel seine
stillen Zeiten zu haben?
Ach, wie ist der Feind geschäftig, die fruchtbaren Christen,
die er nicht anders fällen kann, in solche Vielgeschäftigkeit
zu jagen, daß allmählich vor lauter Versammlungen und
Unterredungen die wichtigste Unterredung mit Gott zu kurz
kommt.
Jemand zählte einmal einem anderen erfahrenen Bruder die
große Zahl seiner Versammlungen und Sprechstunden auf. Jener
aber antwortete: »Und wann ist die Zeit, wo du einmal
schweigst?«
Als Paulus nachher wieder den Mund in Milet öffnete, da ging
eine neue, göttliche Kraftflut durch seine Worte in die
Herzen. Da merkst du, wozu er den einsamen Weg benutzt hat.
2. Wie traf Paulus seine Anordnung?
Der Text sagt: »Er hatte es also befohlen.«
Paulus war sicher kein befehlshaberischer Mensch. Man
sieht aus seinem Brief an Philemon (und aus vielen anderen
Stellen), daß er tausendmal eher bittet und wünscht, bevor
er befiehlt. Aber diesen Wunsch, jetzt eine Zeitlang allein
zu sein, kleidet Paulus in Befehlsform. Nicht, als ob er
sich damit über seine Reisegenossen erhoben hätte wie ein
herrschsüchtiger Tyrann, sondern nur, um gar keinen Zweifel
darüber zu lassen, daß er jetzt unbedingt Stille brauche.
Wie einst Jesus die Jünger von sich »trieb«, um allein auf
dem Berg zu beten (Mark. 6, 45 u. 46), so nötigte Paulus
seine geliebten Gefährten, ihn jetzt eine Zeitlang allein
zu lassen.
Wenn wir doch mehr Bestimmtheit in solcher Sache zeigten!
Wenn man uns von äußeren Vorteilen etwas abziehen will, so
wollen wir ruhig bleiben. Will man uns aber unsere Stille
zum Gebet nehmen, so laßt uns bei aller Sanftmut auch
Festigkeit zeigen!
3. Für wie lange galt diese Anordnung?
Laßt uns beachten, wie weit diese Anordnung reichte! Paulus
wollte bis Assos gehen und dann wieder zu den Brüdern stoßen.
Also nur eine Zeitlang, ein bis zwei Tage, ging Paulus für
sich.
Wir müssen uns vor Überspannung nach zwei Seiten hüten:
Einmal gibt es Christen, die fast nie allein mit Gott sind,
andererseits solche, die immer nur den Segen der Stille
rühmen und die großen Vorteile der brüderlichen Gemeinschaft
unterschätzen. Beides ist not. Wer zu lange allein bleibt,
kann in besondere Versuchungen Satans hineinkommen. Ich traf
einen Bruder, der mir sagte: »Ich gehe überhaupt auf keine
Konferenz oder dergleichen mehr, sondern erbaue mich nur
in der Stille.« Einige Jahre später sah ich ihn wieder mit
verändertem Gesicht und hörte, wie er in eine schwärmerische
Bewegung hineingeraten sei.
Ach, was sind wir schwache Menschen, die des Heilandes
Bewahrung auf allen Seiten brauchen!
Gott gebe uns zur rechten Zeit einsame Wege und zur rechten
Zeit wieder Anschluß an gesegnete Brüder, damit wir den
richtigen Kurs innehalten und in seinem Reich fruchtbar
werden!