Apg 19,36
A.Christlieb
Die Weisheit des Kanzlers in der Behandlung der erregten Menge.
Apostelgeschichte 19, 35 - 40.
Wir lauschen hier der Ansprache eines Weltmenschen, eines
hohen Beamten der Stadt Ephesus. Auch von solchen können
Christen etwas lernen. Die Lage des Kanzlers war nicht ganz
einfach. Es galt, die erregte Volksmasse wieder in ruhige
Bahnen zurückzuführen. Ein einziges, unweises Wort hätte die
Volksleidenschaft neu entfesseln und unberechenbaren Schaden
anrichten können. Auf der einen Seite mußte er jede unnötige
Schärfe vermeiden, auf der anderen die nötige Festigkeit
zeigen. Es gelang ihm, seine Aufgabe zu erfüllen. Die weise
Ansprache des Kanzlers kann allen, welche andere von einem
falschen Weg zurückbringen möchten, drei Hinweise geben.
1. Bevor er tadelt, lobt er.
Ehe er das unrichtige Verhalten des Volkes rügte, sprach er
zuerst einige anerkennende Worte. Er lobt ihren religiösen
Eifer in der Dianaverehrung. Im Sinne jenes Heiden war dies
etwas Gutes. Damit verschaffte er sich Eingang und machte
die Herzen williger, nachher ein tadelndes Wort anzunehmen.
Hier wollen wir etwas lernen. Selbstredend verwerfen wir
jedes unwahrhaftige Schmeicheln und Buhlen um die Gunst der
Zuhörer. Aber bei aller Wahrhaftigkeit gilt es auch zart
vorzugehen im Behandeln von irregeleiteten Seelen. Wir
dürfen sie fühlen lassen, daß wir gern alles Anerkennenswerte
bei ihnen gelten lassen. Auch Jesus hat in den Sendschreiben
erst gelobt, bevor er tadelte (Offenbarung 2, 2. 3. 13.
19).
2. Er spricht seinen Tadel in der mildesten Form aus.
Die Worte des Kanzlers enthielten einen scharfen Tadel für
die versammelten Epheser. Er setzte ihnen klar auseinander:
1. Euer Verhalten ist u n v e r n ü n f t i g . Jedermann
weiß ja längst, daß die hiesige Bevölkerung die Göttin Diana
eifrig verehrt, also ist diese Kundgebung ganz zwecklos.
2. Dies Benehmen ist u n g e r e c h t , denn die gewaltsam
hergebrachten Anhänger der christlichen Religion sind Leute,
denen man nichts Schlimmes zur Last legen kann.
3. Endlich ist eure Handlungsweise u n g e s e t z l i c h ,
weil ihr nicht den vorgeschriebenen Beschwerdegang bei den
geordneten Behörden eingeschlagen habt. So seid ihr in
strafbarem Gegensatz zu den römischen Gesetzen. Diese
Vorwürfe warf aber der Redner der Menge nicht einfach an den
Kopf. Er sprach sie gar nicht direkt aus. Sie liegen nur in
seiner sachlichen Darlegung des ganzen Vorkommnisses
enthalten.
Man sieht: Der vorsichtige Kanzler hüllt die bittere Pille,
die er eingeben muß, so ein, daß sie leichter angenommen
wird. Würde er die Leute spöttisch und scharf behandelt
haben, so hätte er ihre Empfindlichkeit und ihren
Nationalstolz wachgerufen, sie gekränkt und nichts erreicht.
Nun aber bringt er mit dieser Milde und Zartheit in der Form
seiner Rüge die Volksmenge zur Erkenntnis ihres Irrtums. Sie
lassen sich diese Worte gefallen und gehen bereitwillig
auseinander.
Laßt uns beim Strafen behutsam werden in der Form und hierin
gern von dem Kanzler lernen. Wenn die menschliche Bildung
eines Heiden solche Weisheit verleihen kann, sollte die
Schule des Geistes Gottes dieses nicht auch vermögen?
(Matthäus 7, 3 - 5; Galater 6, 1; Psalm 141, 5).
3. Der Kanzler schließt sich selbst mit ein bei seinen
Worten.
Ein Wörtlein des Kanzlers kann uns - wenn wir es in der
rechten Weise brauchen - den Eingang in viele Herzen öffnen.
Es ist das Wörtlein ,,Wir" (,,Wir stehen in Gefahr" der
Anklage). Der Kanzler schließt sich durch dieses Wort ganz
mit dem fehlenden Volk zusammen. Er hebt die Gemeinsamkeit
im Tragen der entstehenden Schwierigkeiten hervor. Er hätte
ja sagen können: ,,E u c h wird es schlecht gehen, wenn der
römische Statthalter eine Untersuchung einleitet. I h r
werdet sehen, was dann für Freiheitseinschränkungen über euch
verfügt werden" und dergleichen. Das tat er nicht. Vielmehr
ließ er als Stadtoberhaupt, obgleich er selbst unschuldig
war, die Leute fühlen: Wir gehören zusammen. Etwaige Folgen
treffen uns gemeinsam. Er stellte sich also nicht hoch über
die Zuhörer und weit abseits von ihnen, sondern mitten unter
sie.
Damit gibt er allen denen, die Sünder vom Irrweg bekehren
möchten, einen recht schönen Hinweis. Laßt uns doch (nicht
aus diplomatischer Schlauheit, um etwas zu erreichen,
sondern) aus wahrer Herzensdemut die Kunst lernen, uns mit
den allerverirrtesten Menschen zusammenzuschließen. Dann
wird Gott unseren Dienst segnen können. In dieser Hinsicht
nehmen wir auch den heidnischen Kanzler von Ephesus gern als
unseren Lehrmeister an (Epheser 4, 15; Römer 14, 19; Galater
6, 10).