Joh 8,15
S.Keller
Joh. 8, 15: «Ihr richtet nach dem Fleische - ich richte
niemand.»
Die Menschen urteilen in doppeltem Sinn nach dem Fleisch:
einerseits nach dem Fleisch, d. h. dem, was ihnen vom
anderen vor Augen ist, und dabei kennen sie die geheimen
Triebkräfte der andern nicht; andererseits nach ihrem eigenen
Fleisch, d. h. nach der äußerlichen irdischen Art, nach
menschlicher Meinung und Verständnis. Das kann man leider
an dem Richtgeist vieler Gläubigen auch noch erkennen: vom
Heiligen Geist und dem Maßstab der Ewigkeit ist nichts
dabei. - Einer hätte damals sofort richtig und bündig jeden
beurteilen können, jedem Gottes Meinung über ihn auf den
Kopf sagen können, und dieser eine, Jesus - richtet niemand.
Er ist ja gekommen, sie zu retten. Hätte er sie gerichtet,
wäre es aus mit ihnen gewesen; dann hätten sie sich der
einschneidenden Wucht solcher Enthüllung nicht mehr entziehen
können und wären verzweifelt. Aber noch war Gnadenzeit, wo
durch Jesus an ihnen etwas anders werden kann. Darum wollen
wir uns erst recht hüten (schon um unserer Kurzsichtigkeit
willen), einem andern die Gerichtsmarke aufzukleben; auch
nicht so schnell bei der Hand zu sein: "Da sieht man Gottes
Gericht über ihn." Statt dessen für den Unglücklichen hoffen
und beten, bis wir vielleicht etwas zu seiner Rettung tun
können.
Herr Jesu, halte das Gericht noch auf. Laß noch
Gnadenstunden kommen, wo du in Liebe wirbst um die Seelen,
ehe das Gericht den endgültigen Abschluß bringt. Hilf uns
gegen den fleischlichen Richtgeist und gib uns Liebe zu den
Seelen. Amen.