Lk 22,24
C.Eichhorn
Die wahre Größe
Es erhob sich auch ein Zank unter ihnen, welcher unter
ihnen sollte für den Größten gehalten werden. Luk. 22, 24
Diesmal war die Streitfrage anders als früher. Damals
handelte es sich darum, wer unter ihnen der Größte sei (Luk.
9, 46). Diesmal: wer für den Größten gehalten werde, nämlich
vom Herrn Jesus. Wer gilt in seinen Augen am meisten? Wem
gibt er den ersten Platz? Bisher schien es, als ob Petrus
dies wäre, hatte ihm der Herr doch versichert: "Du bist
Petrus, und auf diesen Felsen will ich bauen meine Gemeinde."
Nun hatte Johannes den Ehrenplatz (Joh. 13, 23) an diesem
Abend. Das gab wohl Anlaß zu obiger Streitfrage. Öfter gab
es darüber im Jüngerkreis Zwistigkeiten. Der Größensinn ist
eine Quelle vieler Reibereien, nicht nur in der Welt, sondern
auch in christlichen Kreisen. Jesus hat diese Sinnesweise
eindrücklich gekennzeichnet. Er stellte einmal ein Kind in
die Mitte seiner Jünger. Es war beschämend für die großen
Leute, als es hieß: "Wenn ihr nicht klein werdet in euren
Augen wie dies Kind, könnt ihr nicht ins Himmelreich kommen."
Noch beschämender war es für sie, als er am letzten Abend aus
Anlaß ihres Rangstreites ihnen die Füße wusch. Dies war
sonst das Geschäft der Sklaven, wenn Gäste zu einer Mahlzeit
erschienen. Keiner unter den Jüngern gab sich zu diesem
Geschäft her, bevor sie am letzten Abend sich zu Tische
niederließen. So übernahm es der Meister selbst. Es war
eine empfindliche Strafe für ihren Hochmut. Petrus stand
sein Leben lang das Bild vor Augen, wie Jesus die
Sklavenschürze umband. Wir sehen dies aus 1. Petr. 5, 5,
wo es wörtlich heißt: "Hüllt euch in die Sklavenschürze der
Demut!" Jesu Größe zeigte sich im Dienen. So soll es auch
bei den Seinigen sein. Die Könige dieser Welt herrschen,
der König des Himmelreiches dient. Die Großen in der Welt
bekommen schmeichlerisch allerlei Ehrentitel, wie "gnädige
Herren". Allermeist sind sie nichts weniger als gnädig
und liebreich. Es sind oft nur leere und unwahre
Ehrenbezeugungen. Unter den Jüngern Jesu soll der Größte
sein wie der Jüngste der sich überall fügt und unterordnet.
Die Großen im Reich Gottes werden von der Welt übersehen und
nehmen den untersten Platz ein. Sie beweisen ihre hohe
Stellung im Dienen. Sie wollen anderen etwas sein, nicht
aber sich über sie erheben. Wer in Gottes Reich der Erste
sein will, muß aller Diener sein. Einen hohen Rang und
Stellung erwirbt man sich, indem man andern die Füße wäscht.
Dazu gibt es an Krankenbetten, bei verwahrlosten Kindern und
in den Hütten der Armen Gelegenheit genug. Auch das ist ein
Füßewaschen im Sinne Jesu, wenn man die Unliebenswürdigkeiten
mancher Menschen, ihre Wunderlichkeiten, Launen und spitzigen
Reden erträgt, sie nicht fallen läßt, obgleich sie viel
Unangenehmes zu schmecken geben. Sich bücken, anstatt den
Kopf hoch zu tragen und sich in die Brust zu werfen; sich
schicken, aushalten und sich etwas gefallen lassen: das ist
Jüngerart.
C.O.Rosenius
Es erhob sich auch ein Zank unter ihnen (den Jüngern),
welcher unter ihnen für den Größten gehalten werden sollte.
Luk. 22, 24.
Hier können wir mit Augen sehen, wie Christus mit einigen
Jüngern handelte, die sich in einer sehr unwürdigen Weise
versündigt hatten. Es war ja höchst unwürdig, darüber zu
,,zanken, welcher für den Größten gehalten werden sollte".
Schon ein Gedanke in dieser Richtung ist Sünde; hier aber
bricht sie tatsächlich in einen Zank aus. Geziemte sich das
den Jüngern Jesu? Sollten Christen solches tun? Gott
bewahre uns!
Was aber macht der Herr? Ist Er etwa mit ihnen zufrieden?
Nein, Er straft sie. Er sagt: ,,Die weltlichen Könige
herrschen, und die Gewaltigen heißt man gnädige Herren. Ihr
aber nicht also; sondern der Größte unter euch soll sein wie
der Jüngste, und der Vornehmste wie ein Diener." Und, um sie
noch mehr zu zerknirschen, stellt Er ihnen Sein eigenes
Beispiel vor: ,,Welcher ist größer, der zu Tische sitzt oder
der da dient? Ist es nicht also, daß der zu Tische sitzt?
Ich aber bin unter euch wie ein Diener." Zürnt Er ihnen also?
Das hätten sie wohl verdient; aber sieh, was dieser Herr für
ein Herz hat! Mitten in der ernstlichen Strafrede über ihre
ungebührlichen Sünden fängt Er an, von ihren Ehrenplätzen im
Himmel zu reden und wie sie in Seinem Reiche mit ihm auf
Stühlen sitzen und die zwölf Geschlechter Israels richten
sollen. Was sehe und höre ich, Du milder Heiland? Ich
meinte, daß wir wegen so unwürdiger Sünden Deine Liebe und
unser Kindesrecht verlieren würden oder wenigstens für
einige Augenblicke oder für einen Tag von deiner Gnade
ausgeschlossen sein sollten. Aber nein! Hier Sehe ich etwas
anderes. Mitten in der Bestrafung redest Du doch von ihren
Plätzen im Himmel. - Die Gnade, die Kindschaft, das war eine
Sache für sich, die nicht erschüttert werden konnte; sie
beruht auf einem anderen, einem festeren Grund. Daß sie
Kinder Gottes waren und in Ewigkeit mit Christus im Himmel
sein sollten, das war eine ausgemachte Sache, die nicht auf
ihrer armen unbeständigen Frömmigkeit beruhte. Sie strafen,
zurechtweisen, ermahnen, das allein wollte Christus und nicht
mehr. So ist Er gesinnt, der liebe, milde, treue Heiland.
Der Teufel setzt den Stachel gegen das Leben selbst, er will
uns direkt verdammen, wenn wir gesündigt haben; der Herr
Christus aber nicht.
Was sollen wir nun aus alledem lernen? Sollen wir daraus
entnehmen, daß es nicht gefährlich sei, gegen Gott zu
sündigen, daß vielmehr, da Christus eine so große, beständige
Gnade bei diesen Sünden Seiner Jünger zeigt, wir nun gern
darüber zanken können, wer unter uns für den Größten gehalten
werden soll, und dergl.? Einige wollen es aus diesen
Beispielen schließen. Aber solche ,,Lästerer" sind schon
ausdrücklich vom Geist des Herrn bezeichnet (Röm. 3, 8); der
Apostel fügt hinzu, daß ,,ihre Verdammnis ganz recht ist".
Die Evangelisten haben diese Beispiele von den Schwachheiten
der Jünger und von der Gnade des Herrn Christus wahrlich
nicht aufgezeichnet, auf daß dieselben übergangen und
verschwiegen, Sondern daß sie im Gegenteil betrachtet würden
- und nicht als Beispiele der Sünden Ungläubiger, sondern als
Beispiele der Schwachheiten der Gläubigen. Denn wir müssen
das Urteil Christi doch gelten lassen, wenn Er vor Seinem
Tod gerade zu diesen Jüngern sagt: ,,Ihr seid Reben an Mir;
Ich in ihnen und sie in Mir; ihr seid jetzt rein" usw. Und
daß diese Jünger an dem großen Tage der Pfingsten eine andere
Kraft empfingen, das machte sie weder zu Christen noch zu
Christi Freunden, sondern zu Aposteln, die nun mit einer
,,solchen Kraft aus der Höhe angetan wurden", die niemand
nach ihnen gehabt hat; obwohl sie auch nachher nicht
fehlerfrei waren. - Wenn du die Wahrheit des Evangeliums
rein behalten willst, dann ist es falsch zu glauben, daß die
Gnade auf verschiedenen Graden der Frömmigkeit und der Kraft
beruhe; denn dann hast du im Glauben geirrt. Wenn wir
wähnen, daß die Gnade auf unserer Heiligung beruhe, dann
haben wir einen anderen Grund für den Glauben als den,
,,der gelegt ist". Wenn nun die Gnade aber nicht auf
Heiligungsgraden beruht, dann ist es richtig, wenn die
Evangelisten die Begnadigung gerade der schwächsten Jünger
als Beispiele der Liebe Christi dargestellt haben.
Aus den hier angeführten Beispielen sollen wir nicht lernen,
daß die Sünde nichts bedeute, auch nicht, daß wir den
Schwachheiten der Jünger nachfolgen sollen, ja, nicht einmal,
daß der ein Christ sei, der ihnen in diesen Schwachheiten
ähnlich ist, sondern daß vielmehr die Gnade Christi so
groß und so unerschütterlich den Gebrechen Seiner Freunde
gegenüber ist, wie du hier siehst. Du solltest den Ernst der
Versöhnung Christi und der Vergebung der Sünden zur Stärkung
deines schwachen Glaubens kennenlernen, dann wird der
gestärkte Glaube auch vermehrte Liebe und Kraft zu allem
Guten mit sich bringen. Du wirst erfahren, daß die Liebe
Christi uns dringet, sofern du ein lebendiges Glied an Ihm
bist. Wenn du dagegen eine entgegengesetzte Wirkung
erfährst, so daß du frei sündigen willst, weil die Gnade so
groß ist, dann ist dies ein Zeichen dafür, daß du tot bist.
Dieses Zeichen ist so untrüglich wie jenes, daß der im Stamm
lebende Zweig eines Fruchtbaumes durch die Wärme der Sonne
nur um so mehr Saft und Früchte erhält, während hingegen der
Zweig, dessen Laub durch dieselbe Sonne austrocknet, mit
Recht dafür angesehen werden muß, daß er in keiner lebendigen
Verbindung mit dem Stamm steht.
Mein Jesu, Deine Gnade all
Mein Elend von mir wendet;
Sie hebt und schützt bei jedem Fall,
Denn Gott mit ihr ja sendet
Den Heil'gen Geist mir in mein Herz,
Der tröstet, warnt mich allerwärts
Und leit't in alle Wahrheit.