Mt 7,9
W.MacDonald
»Oder welcher Mensch ist unter euch, der, wenn sein Sohn
ihn um ein Brot bittet, ihm einen Stein geben wird?«
Matthäus 7,9
Natürlich muß die Antwort auf diese Frage lauten: Niemand.
Normalerweise würde kein Vater seinem Sohn einen Stein statt
eines Brotes geben. Und ganz gewiß würde der himmlische
Vater das niemals tun.
Aber das Traurige daran ist, daß wir unseren Mitmenschen
manchmal doch Steine anbieten. Da kommen Leute zu uns in
tiefer geistlicher Not. Vielleicht merken wir gar nicht, was
ihnen wirklich Kummer macht. Oder wir schicken sie mit einem
oberflächlichen Allheilmittel wieder fort, anstatt ihnen vom
Herrn Jesus zu erzählen.
E. Stanley Jones verdeutlicht das an einer Geschichte, die
er selbst erlebt hat (man muß schon ein großer Mann sein,
wenn man eine Geschichte vom eigenen persönlichen Versagen
offenlegen kann). »Als die Mitglieder des indischen
Kongresses in ihrer neu erworbenen Macht so oft ihren Einfluß
zu ihrem eigenen Nutzen einsetzten anstatt für das Wohl ihres
Landes, übertraf das das Maß, das Jawaharlal Nehru ertragen
konnte. Er sprach davon, daß er sich mit dem Gedanken trug,
von seinem Amt als Premierminister zurückzutreten und weit
fortzugehen, um sein inneres Gleichgewicht wiederzugewinnen.
Ich besuchte ihn zu dieser Zeit, und gegen Ende des Gesprächs
schenkte ich ihm ein Röhrchen mit Tabletten, die aus Getreide
gemacht waren und alle bekannten Vitamine enthielten. Er
nahm das Röhrchen mit Dank entgegen, sagte aber dazu: 'Meine
Probleme sind nicht körperlicher Art.' Er wollte damit sagen,
daß er eher geistliche Schwierigkeiten hatte. Ich hätte ihm
von der Gnade Gottes erzählen sollen, aber ich bot ihm nur
Tabletten an. Er fragte nach Brot, aber ich gab ihm nur
einen Stein... Ich wußte doch, daß ich die Antwort kannte,
aber ich wußte eben nicht, wie ich sie ihm mitteilen sollte.
Ich hatte Angst, daß ich dem großen Mann zu nahe treten
könnte. Dabei hätte ich mich an das Motto auf der Mauer des
Sat Tal Ashram erinnern sollen: 'Es gibt keinen Platz auf
der Welt, wo Jesus Christus fehl am Platz wäre.' Aber ich
sagte nichts. Ich bedachte viele Dinge, die mich zögern
ließen, und die Unsicherheit gewann die Oberhand.
Ich schenkte ihm Vitamintabletten, wo er doch eigentlich die
Gnade Gottes haben wollte - die Gnade und Macht, die sein
Herz hätte gesund machen können. Dann hätte er sagen können:
'Ich bin im Herzen geheilt. Nun soll die Welt an mich
herantreten, die Welt mit ihren unlösbaren Problemen.
Ich bin bereit.'«
Ich fürchte, diese Erfahrung von Dr. Jones ist vielen von
uns nur allzu gut vertraut. Wir begegnen Menschen, die in
tiefen geistlichen Nöten stecken. Sie lassen einige Worte
fallen, die uns die Tür weit öffnet, so daß wir ihnen durch
Jesus Christus dienen könnten. Aber wir nehmen diese
Gelegenheit nicht wahr. Entweder kleben wir rasch ein
harmloses Allerweltspflaster auf ihre geistliche Wunde,
oder wir wechseln das Thema und reden von irgendeiner
Belanglosigkeit.
Herr, hilf mir, jede Gelegenheit für ein Zeugnis von Dir zu
ergreifen, jede geöffnete Tür zu benutzen. Hilf mir, meine
Unsicherheit zu überwinden, Brot und Gnade dann auszuteilen,
wann immer sie gebraucht werden.