Kla 3,25
S.Keller
Klagelieder 3, 25: «Der Herr ist freundlich der Seele, die
nach ihm fragt.»
Hat man Jesus erst kennengelernt und weiß, wie viel Stillung
der Unruhe, wie viel Kraft in der Schwäche, wie viel Trost
im Leid seine Nähe unserer Seele bringt, dann erscheint es
einem wirklich als keine Leistung oder Tugend, daß die Seele
sehnsüchtig nach ihm fragt. Nein, das Bedürfnis nach ihm
wird einem so selbstverständlich, daß man es wie ein
unerträgliches Unbehagen empfindet, wenn auch nur das Gefühl
seiner dauernden Gegenwart uns schwindet. Dann ist solch
eine Zusage köstlich: er ist freundlich gegen eine jede
solche suchende Seele. Zuerst muß ich das, auch wenn das
bestätigende Gefühl des Friedens noch fehlt, im Glauben
festhalten: er ist mir nah, er ist mir lieb! Dann taste ich
in meinem Innern umher, woran es liegen mag, daß ich ihn
nicht spüre. Da kommt es uns bisweilen vor, als wären wir
verirrte Blinde, die schon im Tempel, nach dem sie begehren,
sich befinden und ängstlich fragen: wer will mich hin zum
Tempel führen? Wenn die Binde von den Augen genommen wird,
erkennen wir plötzlich: er war ja die ganze Zeit da! Nur wir
waren nicht in der für ihn aufgeschlossenen Verfassung. Und
da kommt das Gefühl der großen Geborgenheit wieder über uns,
jener seligen Stille: ich bin nicht allein, ich bin bei Ihm!
Wer ist wohl wie du, Herr Jesu, süße Ruh! Ach, laß mich dich
nur nicht entbehren. Laß mir aus dem Dunkel des Alleinseins
dein Antlitz leuchten, so genese ich wieder. Herr, ich traue
deiner Freundlichkeit. Amen.