Jes 49,15
S.Keller
Jes. 49, 15: «Kann auch eine Frau ihres Kindleins vergessen?»
In den alten heiligen Büchern der Inder steht das Wort: eine
Mutter hat mehr Wert als tausend Väter. Das klingt nach
heidnischer Übertreibung, aber es deutet doch darauf hin, was
für wertvolle, wundersame Beziehungen zwischen Mutter und
Kind bestehen. Und unser großer, heiliger Gott, von dessen
Liebe die höchste Mutterliebe nur ein schwacher Abglanz ist,
vergleicht sich doch selbst in seiner Stellung zu uns gern
mit einer Mutter. Sollte eine solche, wenn sie anders echt
ist, ihres Kindleins vergessen? Und ob sie desselben
vergäße, so will ich doch deiner nicht vergessen, spricht
der Herr. Was ist das für eine wunderreiche Trostquelle für
unsere dunklen Stunden! Während wir klagen und zagen, gehen
heilige Triebe der treuesten Liebe vom Throne der Macht aus,
uns zu suchen, uns zu tragen, uns zu trösten. Wolltest du
nur darauf achten und deine Seele dafür öffnen, was gilt's,
er läßt dich auf merkwürdige Weise spüren, daß er dich liebt.
Er vergißt unser nicht. Sobald du dich reumütig und gläubig
zu ihm kehrst, wird er dir offenbaren, daß er deiner noch
nie vergessen. Selbst jene dunklen Stunden waren nur ein
Zeichen, daß er deiner nicht vergaß; denn sie ziehen dich
zu ihm.
Herr, unser Gott, vergib uns alle unsere Versündigungen gegen
deine Liebe. Laß das Kind wieder stille werden an der Mutter
Brust. Wir sind ja doch in deinen Händen und an deinem
Herzen. Stärk' uns solchen süßen Glauben! Amen.
C.O.Rosenius
Kann auch eine Mutter ihr Kindlein vergessen, daß sie sich
nicht erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie
desselben vergäße, so will Ich doch deiner nicht vergessen.
Jes. 49, 15.
Das traurige Zion, die Schar der Gläubigen des Herrn, hatte
im vorhergehenden Verse jämmerlich geklagt: ,,Der Herr hat
mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen." Darauf
antwortet der Herr so, als ob Zions Klage wie die eines
Menschen sei, der einsam in einem Walde geht, mit sich selbst
redet und seine Not gleichsam den Bergen und Bäumen im Walde
klagt, und dann ertönt die Antwort des Herrn wie ein Echo in
den Bergen. Zion hört eine Stimme, sieht aber nicht den, der
da redet. Und wie bei einem Echo, von dem wir wissen, daß es
auf das letzte und nicht auf das erste Wort antwortet, ist es
auch hier. Zion hat gesagt: ,,Der Herr hat mich verlassen,
der Herr hat meiner vergessen!" Dieses letzte Wort ,,meiner
vergessen" greift der Herr auf: ,,Was redest du? Meiner
vergessen? Kann auch eine Mutter ihr Kindlein vergessen?" Er
antwortet nicht auf das erste Wort ,,mich verlassen"; denn
das ist wohl möglich, daß der Herr eine Zeitlang Seine Kinder
verläßt oder sich so stellen kann, als habe Er sie verlassen,
indem Er ihnen Sein Antlitz verbirgt, sich in der Zeit der
Not verbirgt. Aber es ist geradezu unmöglich, daß Er sie
auch nur einen Augenblick vergessen könnte. Darüber wundert
der treue Gott sich also nicht, daß gesagt wird: ,,Der Herr
hat mich verlassen"; daß Zion aber zugleich sagen will: ,,Der
Herr hat meiner vergessen," das kann Er nicht dulden; das ist
zu hart geredet; das will Er von sich abwenden. ,,Kann auch
eine Mutter ihr Kindlein vergessen, daß sie sich nicht
erbarme über den Sohn ihres Leibes? Und ob sie desselben
vergäße, so will Ich doch deiner nicht vergessen. Siehe, in
die Hände habe Ich dich gezeichnet!"
Der Herr gibt also in diesen Worten genügend zu erkennen, daß
Er Sein Zion weder vergessen kann noch will. Er kann nicht.
Ebensowenig wie eine Mutter ihr Kindlein vergessen kann, kann
auch Er es nicht tun; und wenn sie es auch könnte, so will Er
es doch nicht. ,,Ob sie desselben vergäße, so will Ich doch
deiner nicht vergessen." Und Er zeigt auch die Ursache,
weshalb Er weder will noch kann, ebensowenig wie Er kann noch
will; denn Er spricht: ,,In die Hände habe Ich dich
gezeichnet!" Wie könnte Ich dann deiner vergessen, wie würde
Ich es dann wollen? An anderen Stellen zeigt Er, daß Er auch
die Liebe eines Vaters hegt; aber das ist nicht genug; Er
hat eine größere, Er hat eine zärtlichere Liebe, Er hat
die Mutterliebe. ,,Kann auch eine Mutter ihres Kindes
vergessen?" Ja, Er zeigt, daß Er noch größere Liebe als
die einer Mutter hat:
,,Ob sie desselben vergäße (also schließt Er die Möglichkeit
nicht aus, daß eine Mutter dies jemals tun könnte), so will
Ich doch deiner nicht vergessen." Er zeigt, daß Seine Liebe
unendlich und unvergleichlich ist, da sie größer ist als die
Liebe einer Mutter.
Dies ist nun der tiefste Grund aller jener Güte, Gnade und
Barmherzigkeit, die Gott der Herr dem menschlichen Geschlecht
von Erschaffung der Welt an erwiesen hat, nämlich die so ganz
besondere Liebe Seines eigenen Wesens, eine Liebe, die noch
kein Mensch begreifen konnte, weil niemand etwas erfahren
hat, was dieser Liebe gleich sein könnte; denn sie ist dem
Wesen Gottes gleich, unermeßlich, unendlich, unfaßbar. Aus
dieser Liebe Seines hohen Wesens erschuf Gott den Menschen,
so kostbar ausgerüstet und so reich mit allem umgeben, was er
nötig haben konnte und wovon die Natur redet. Aus dieser
Liebe sandte Er der Welt Seinen Sohn zum Heiland, als sie
sich durch die Versündigung gegen den Schöpfer eine gerechte
Verdammnis zugezogen hatte, wie Jesus spricht: ,,Also hat
Gott die Welt geliebt, daß Er Seinen eingeborenen Sohn gab."
Aus dieser Liebe hat Er die größten Sünder nicht nur
angenommen, sondern sie auch selbst gesucht, wie Jesus uns
am Beispiel jenes Vaters zeigt, der seinem unwürdigen,
erniedrigten Sohn entgegenlief, ihm um den Hals fiel, ihn
küßte und ausrief: ,,Nun muß man fröhlich und guten Mutes
sein; denn dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig
geworden." Dieselbe Gottesliebe redet hier: ,,Kann auch eine
Frau ihr Kindlein vergessen?" Wer kann diese Liebe wohl ganz
begreifen oder ausreden? Johannes konnte sich darüber nicht
anders ausdrücken, als daß Gott die Liebe sei - ,,Gott ist
die Liebe."
Diese Liebe war der erste Grund, weshalb Gott uns nie
vergessen kann oder nie aufhören kann, an uns zu denken. Der
andere Umstand, auf den Er hier die Aufmerksamkeit Seines
armen Zion lenkt, ist der, daß das Kind vom Leibe der Mutter
gekommen ist. Er sagt: ,,Der Sohn ihres Leibes." Dieser
Gedanke war schon vollständig mit dem Worte ,,Kindlein"
ausgedrückt. Der Zusatz: ,,Sohn ihres Leibes" sollte nur an
ein dem Mutterherzen sehr nahegehendes Verhältnis erinnern.
Da der Herr aber mit alledem Sein Verhältnis zum Menschen
bezeichnen will, so werden wir hier an einen höchst
denkwürdigen und trostreichen Umstand erinnert: Der Mensch
ist Leibessohn des großen Gottes. Oder woher ist er sonst
gekommen? Woher sind wir? Dieses merkwürdige Geschlecht auf
Erden, der Mensch - woher ist er gekommen, wenn nicht aus
Gott? Und eben das ist der tiefe, ewige Grund, weshalb Gott
uns nicht vergessen kann.
Er läßt mich nicht!
Und wenn mich alle auch verlassen,
Wenn Treue nur ein Wahn auf Erden wird,
Dann wird, dann muß der himmlisch treue Hirt
Nur fester noch Sein armes Lamm umfassen;
Das Hirtenherz ist meine Zuversicht,
Er läßt mich nicht.