Hohelied

Hl 6,4 S.Keller Hohel. 6, 4: «Wende deine Augen von mir, denn sie überwältigen mich.»

Menschenaugen können in Liebe oder Vorwurf, wenn sie bei geschlossenen Lippen auf uns gerichtet sind, eine bannende oder beugende Macht auf uns ausüben. Der verlorene Sohn flüchtete, nachdem er sein Gut in Händen hatte, nur darum in ein fernes Land, weil er den Vorwurf und die Liebe in den Augen seines Vaters nicht mehr ertragen konnte. Wie muß uns zumute sein, wenn der Herr uns ansieht! Wenn in stiller Stunde des Sinnens über unsere Wege oder über seine Worte wir vor ihm schweigen, dann kommt es vor, daß wir in einem Blick seiner Augen unser Urteil lesen, dagegen es keinen Appell an eine höhere Instanz gibt. Aber wir kennen auch jene anderen Blicke, wo ein Strahl seiner Liebe plötzlich, wie Sonnenschein nach Wetterwolken, uns mit solcher Stärke trifft, daß wir in heiligem, seligem Schauer erheben. Daß er in diesem Augenblick uns nahe ist, daß er uns Liebe erweisen will, das entwaffnet uns und löst allen Widerstand. So hat Petrus in einem solchen Augenblick gesagt: "Herr, gehe hinaus von mir - ich bin nur ein sündiger Mensch! Ich kann so viel Herrlichkeit und Güte jetzt eben noch nicht vertragen!" In diesem Sinne habe ich unser Textwort auch schon oft an meiner Seele erlebt.

Nur heute, nur jetzt auf Erden, Herr Jesus, kann ich den vollen Strahl deiner Liebe nicht lange auf mich gerichtet sehen. Was ich davon erfuhr, nehme ich zum Unterpfand, daß die Herrlichkeit der Ewigkeit mein Glück steigern wird ins Unendliche. Lob sei dir, o Herr Jesus! Amen.