Ps 130,6
C.O.Rosenius
Meine Seele wartet auf den Herrn von einer Morgenwache bis
zur anderen. Ps. 130, 6.
Es ist ein die Kinder Gottes auszeichnender Zug, daß sie
einen kindlichen Geist empfangen haben, durch welchen sie
rufen: ,,Abba, lieber Vater". Wenn sie in dieser Weise
nicht vertraulich mit Ihm reden können - von einer solchen
Schwachheit und Ohnmacht werden sie oft befallen - ergreifen
in ihren Herzen ein Seufzen nach dem Herrn und ein Harren
auf Ihn Platz. Der Heiland, Seine Gnade und Nähe sind das
Lebensbedürfnis ihrer Seele, so daß das Harren auf den Herrn
der Atemzug des neuen Menschen ist. Und der Herr läßt Seine
Freunde nicht vergebens Seiner harren und begehren. Er sagt:
,,Wer mich liebt, den wird mein Vater lieben, und Wir werden
zu ihm kommen und Wohnung bei ihm machen."
Denke aber nun nicht, daß du Ihn immer nahe sehen und
empfinden wirst! Im Gegenteil! - Es ist gerade ein Hauptzug
Seiner Haushaltung mit uns, daß Er sich verbirgt und uns
allerlei Böses sehen und fühlen läßt, wie z. B. Sünde,
Ohnmacht und gräßliche Anfälle des Teufels. Uns scheint, daß
der Heiland tausend Meilen entfernt sei und neben unserer
eigenen Bosheit und der der Welt uns nur böse Geister in
ihrer Gewalt hätten. Dann seufzt die Tochter Zion: ,,Der
Herr hat mich verlassen, der Herr hat meiner vergessen." Dann
geht die Braut in der Dunkelheit der Nacht und ,,sucht den,
den ihre Seele liebt". Dann steht Maria am leeren Grab und
weint darüber, daß ihr Herr verloren sei. Das ist die kleine
Zeit, von der der Herr sagte: ,,Über ein kleines, so werdet
ihr Mich nicht sehen; und ihr werdet weinen und heulen."
Beachte und vergiß es nie! Es gehört zur Haushaltung des
Herrn mit uns, daß Er sich so verbergen wird. Es wird dir
durchaus nicht wie das Verbergen während einer kurzen
Zeit, sondern stets wie ein ganzes Verlassen erscheinen,
gewissermaßen als gerechte Folge einer begangenen Sünde
und Untreue. Käme es dir nicht so vor, dann würde es keine
wirkliche Prüfung sein. Nun soll es aber eine ernsthafte
Übung deines Glaubens, deines Gebetes und deines Harrens auf
den Herrn sein. - Aber so gewiß, wie Gott selbst Seinem Zion
erklärt: ,,Ich habe mein Angesicht im Augenblick des Zorns
ein wenig vor dir verborgen; aber mit ewiger Gnade will Ich
Mich deiner erbarmen," und so unmöglich es ist, daß Christus
der weinenden Maria am Grabe oder den zwei Jüngern, die nach
Emmaus gingen und die Ihn als für immer verloren ansahen,
fernbleiben konnte, ebenso unmöglich ist es auch, daß eine
einzige Seele jetzt des Herrn harren und Tag und Nacht zu Ihm
rufen könnte und dennoch in ihrem Harren zuschanden werden
müßte. Das streitet ganz gegen das gnädige Wesen Gottes.
Der Herr führt die Seinen wundersam, aber stets mit einer
ewigen Treue. Und es mag mit deinen Sünden und deinem
Zustand sein, wie es wolle, - wenn nur deine Seele des Herren
harrt, - ob du auch kein einziges Gebet über deine Lippen
bringen kannst, sondern dein gequältes Herz in Ohnmacht und
unaussprechlichen Seufzern nur des Herrn harrt, - dann kann
Er unmöglich fernbleiben. Sieh die eigenen Versicherungen
unseres Herrn Christus, wenn Er von einer Witwe und einem
,,ungerechten Richter" bei Luk. 18 redet, oder von dem, der,
um Mitternacht, da die Tür verschlossen war, Besuch von
seinem Nachbarn erhält, der Brot zu leihen begehrt (Luk.
11). Mit diesen Gleichnissen will Er uns helfen einzusehen,
daß es Seinem Herzen nicht möglich ist, einem Notleidenden
Seine Hilfe zu verweigern. Er fordert aber, daß wir eine
Zeitlang Seinem bloßen Worte glauben; denn es gehört zur
Prüfung, daß man das Gefühl hat, als ob alles vergebens wäre.
Und es ist gerade der Zweck der Prüfung, daß der Glaube geübt
werden soll.
Diese Übung im Glauben haben wir oft dadurch, daß wir nichts
vom Geistlichen empfinden, weder Kummer noch Erquickung,
weder Sünde noch Gnade; sondern eine Totenstille und Dürre in
der Seele lassen uns befürchten, daß unser geistliches Leben
ausgelöscht sei und daß wir uns in der Ruhe des Todes
befänden. Für aufrichtige und wachsame Christen kann diese
Stille, Leere und Ohnmacht schon die schwerste Prüfung
werden. Aber gerade diese Furcht vor einem heimlichen Tod
ist nicht nur der kräftigste Beweis dieser Gefahr, sondern
auch das einzige Mittel gegen dieselbe. Diejenigen hingegen,
die sich nie vor sich selbst fürchten, haben wirklich allen
Grund, sich zu fürchten.
Aber nun, wie wunderlich der Herr uns auch führt, so kann
Er doch nicht immer verborgen bleiben. ,,Die auf den Herrn
harren, kriegen neue Kraft" - und bekommen von Zeit zu Zeit
auch Seine Herrlichkeit zu sehen, so daß sie von einer
unsagbar seligen Verwunderung über den lebendigen und
gegenwärtigen Gott erfüllt werden, der so wundersam, aber
auch so treu ist. Wenn sie während einer langwierigen
Prüfung schließlich angefangen haben, zu meinen, daß sie ganz
vom Herrn verlassen seien, dann gibt Er ihnen unvermutet
einen so wunderbaren Gnadenbeweis, daß sie wie Daniel
ausrufen, als diesem in der Löwengrube Speise gesandt wurde:
,,Herr Gott, Du denkst ja noch an mich! Ich meinte, Du
hättest meiner vergessen." O, wie die geprüfte Seele dann die
Lieblichkeit Gottes schmeckt, ja, etwas ,,von den Kräften der
zukünftigen Welt" erfährt; jetzt will sie mit David auch für
die Trübsal ihrer Seele danken!
So merke dann, der du mußt klagen,
Daß Gott deiner so ganz vergißt,
Daß deinen Jammer Er nicht wüßt':
Nicht Gott noch Sein Christ
Sich ändern in wechselnden Tagen.
Kannst du es auch nimmer verstehn,
In Christo du immer bist schön.