Ps 119,105
C.O.Rosenius
Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem
Wege. Psalm 119, 105.
Bedenke, wie grausam diejenigen ihre Seele behandeln, die
sich dieser Himmelsspeise, der einzigen Arznei und des
einzigen Lebensbrotes, des Wortes Gottes, enthalten! Gott
hat uns gnädig vom Himmel herab ein sichtbares Mittel
geschenkt, in welchem er wohnt und wirkt, und von dessen
richtigem oder falschem Gebrauch die ewige Seligkeit abhängt.
Dennoch sieht man nicht nur die blinde Welt diese Perlen
verachten und mit Füßen treten, sondern man sieht auch,
was noch erschrecklicher ist, daß diejenigen, die einst
erleuchtet gewesen sind und das gute Wort Gottes geschmeckt
haben, sich durch die Welt und das Fleisch oft so von ihm
abhalten lassen, daß vielleicht Tage, um nicht zu sagen
Wochen dahingehen, ohne daß sie eine einzige Stunde zur
Nahrung ihrer Seele anwenden. Oder wenn sie sich eilig dem
Wort zuwenden, sind die Gedanken und das Herz so mit
weltlichen Dingen angefüllt, daß - gleichwie ein stürmisches
und brausendes Meer unmöglich von den Strahlen der Sonne
erwärmt werden kann - als Frucht von solchem Umgang mit
dem Wort nur vermehrte Unlust dazu entsteht.
Das Wort Gottes will mit einem stillen, betrachtenden Geist
angenommen werden, wenn es das Herz erwärmen soll. Aber
hieran hindert das fesselnde Irdische oder das, was Jesus mit
den ,,Dornen, die den guten Samen ersticken" meint, nämlich
,,die Sorgen und die Wollust dieses Lebens", Fleischeslust,
Trägheit und die vielerlei Sorgen und Verrichtungen, die
in den Augen der verblendeten Seele alle wichtiger als das
Himmlische sind. Jetzt heißt es: ,,Ich habe keine Zeit, das
Wort so fleißig zu benutzen, denn das und das muß getan
werden." Und das, was getan werden muß, ist etwas Irdisches,
was aber außer acht gelassen werden soll, ist das Himmlische,
das nun weniger bedeutet! So ist die Seele bezaubert und
verblendet!
Du sagst: ,,Die Pflicht des Berufes ist eine heilige Pflicht;
und wer nicht für sein Haus sorgt, ist ärger als ein Heide."
Jesus aber spricht: ,,Dies sollte man tun und jenes nicht
lassen." Wenn du deines Amtes und Hauses aufs vollkommenste
wartetest, das Gnadenleben aber absterben ließest, so kann
das treu besorgte Amt und Haus dir im Tod und im Gericht
nicht helfen. Wer aber vorwendet, daß dein Haus und dein
Amt darunter leiden würden, wenn du dich dem Wort Gottes
widmetest, ist nur der Betrüger, die alte Schlange, sowie
der Heide in deiner Brust, der Unglaube deines Herzens, der
nichts von einem Segen Gottes weiß, weil er das Himmlische
nicht achtet, sondern lieber zehn Stunden verspielt und
verschwätzt, als eine zur Andacht anzuwenden. Welch große,
heidnische Verachtung Gottes und deiner unsterblichen Seele!
Du hast Gelegenheit zu dem seligen, hohen und ehrenvollen
Umgang mit dem Herrn des Himmels und der Erde, mit deinem
Heiland und Seligmacher, Gelegenheit dazu, Ihn reden zu
hören, was durch das Wort geschieht, und mit Ihm zu reden,
was im Gebet geschieht, und du sprichst, du hättest keine
Zeit dazu; von nichtigen Dingen aber unter den Menschen zu
hören und zu reden, dazu hast du Zeit! Muß das nicht heißen,
vom Teufel bezaubert zu sein? Vor all deinen Geschäften hast
du keine Zeit dazu, auch nur eine von den vierundzwanzig
Stunden des Tages zur Nahrung deiner Seele anzuwenden. Wenn
Gott dich nun schlüge und ein Jahr krank liegen ließe, stünde
dann nicht dennoch die Welt? Dann hast du geringen Dank von
all den weltlichen Dingen, die du so treulich besorgt hast;
sie können dir nun nicht helfen. Gott aber und Sein Wort
hast du verachtet, willst du jetzt wohl den Verachteten um
Hilfe anrufen?
Wenn nun das Versäumen des Wortes Gottes zur Folge hat,
daß du täglich dem inwendigen Menschen nach ermattest, daß
der Glaube verdunkelt wird und die Gottesfurcht und alle
Gnadenkräfte abnehmen, dann klagst du vielleicht über
Schwachheiten und Versuchungen, die du nicht überwinden
kannst. Wie war das anders zu erwarten? Daß du das Böse in
dir ohne Gnadenmittel überwinden sollst, erwarten weder Gott
noch Menschen. Solche Kräfte liegen nicht in uns. Deshalb
gab Gott uns das Mittel von oben herab. Wenn du es richtig
anwendetest, dann würde nichts unmöglich sein, was zum Leben
und zur Gottesfurcht dient. Wenn du sagst, daß du das Wort
Gottes zu lesen versucht hast, trotzdem aber nicht besser
geworden bist, dann verstehst du entweder deine Besserung
nicht - du meinst, plötzlich eine gewisse Höhe an Kraft,
Frömmigkeit und Heiligkeit zu erreichen, und weißt nicht, daß
der Weg dazu durch das Tal der Erniedrigung und Armut geht, -
oder aber du hast, wenn du wirklich noch ein Sklave der Sünde
bist und wenn du neues Leben, neue Lust, neue geistliche
Kräfte noch nicht erhalten hast, das Wort nicht richtig
gebraucht. Vielleicht hast du die Ordnung Gottes umgekehrt
und zuerst das Böse in dir zu überwinden gesucht, bevor du
dir das Verdienst Gottes angeeignet hast, Frucht zu bringen
gesucht, bevor du in Christus eingepfropft wurdest. Beginne
nun, dem Wort zu gehorchen, welches sagt: ,,Flieht erst zu
Jesus, sucht dort Gnade, hernach ihr wahre Kraft empfangt."
Laß die böse Eigengerechtigkeit fahren, wirf dich mit allen
Mängeln und Widersprüchen in die Arme der Gnade, und du wirst
erfahren, ,,wo die Sünde mächtig geworden ist, da ist doch
die Gnade viel mächtiger geworden." Jetzt wird diese
übermächtige Gnade dein armes Herz so erfreuen, zerschmelzen
und umwandeln, daß es nicht mehr an dem Bösen, das dich
früher gefangenhielt, Geschmack finden wird, sondern das
Gute, das du nicht zu tun vermochtest, wird nun deine Lust
werden. So lehrt das Wort. Wende dies mit Gehorsam an, dann
ist auch dir das zur Seligkeit Notwendige möglich.