Ps 42,1
J.Kroeker
Von der Erkenntnis Gottes.
"Wie ein Hirsch, der lechzt an Wasserrinnen, so lechzt die
Seele mein nach Dir, o Gott!" Ps. 42,2.
Offenbar aus Rücksicht auf seine priesterliche Stellung hatte
man den Sänger dieses Psalmes hierher an den Fuß des Hermon
gebracht. Denn hier in der Nähe der wilden Sturzbäche des
wasserreichen Jordan befand sich seit alten Zeiten das
Heiligtum einer daselbst verehrten Naturgottheit. Es war
wohl der Quellgott des wasserreichen Jordanflusses, der an
den Südabhängen des Hermon seine Quellen hat und hier in
mächtigen Katarakten seine Wassermassen hinunter ins Tal
sendet.
Nicht nach irgendeinem Gott, nach dem lebendigen Gott sehnt
sich seine Seele: nach dem Gott, den er als Hilfe so oft
erlebt, dem er als Priester so oft in der Mitte einer
opfernden und feiernden Gemeinde gedient hatte. Er fehlte
seiner Seele. Unmöglich konnte ihm eine andere Gottheit
Ersatz bieten für diesen Gott seines Lebens. Ihn hatte er
kennen gelernt in der Geschichte seiner Väter. Seine Nähe
hatte er verspürt an den Altären des Heiligtums. Seine Kraft
hatte er gesehen in denen, die ihm vertrauten. Gott selbst
ist es der ihm fehlt; daher fühlt sich seine Seele so einsam
trotz der Menschen, die ihn umgeben, und trotz des
Heiligtums, in dem er sich wahrscheinlich befand.
Der Psalmist hatte Höheres kennen gelernt als das, was ihn
umgab. Er hatte weit Besseres gefunden, als eine sterbende
Kultur ihm bieten konnte. Hatte eine alte Vergangenheit auch
geglaubt, in den gewaltigen Naturkräften die Gottheit selbst
zu sehen, der Sänger wusste: Naturkräfte sind wohl Gesetze
Gottes, nie aber die Persönlichkeit Gottes. So gewaltig
und majestätisch sie auch sind, so sehr auch eine frühere
Menschheit je und je bei ihrem Anblick innerlich erschauerte,
und in knechtische Furcht und Anbetung geriet, weil sie
in "dem geheimnisvollen Weben und Leben der Natur die Nähe
göttlicher Gewalten verspürte", ihm, der die Gemeinschaft mit
Gott selbst kennen gelernt hatte, konnten keine Naturgesetze
mehr Ersatz bieten für Gott selbst.
Daher war seine Seele so einsam, trotz des
kultisch-heidnischen Heiligtums, so ohne Gottesnähe, trotz
der wilden und majestätischen Naturkräfte, von denen er sich
hier umgeben sah. Seelische Einsamkeit ist aber das Tiefste
und Schwerste, was eine Seele zu durchkosten vermag. Sie
liegt auf jener Linie, wo der Größte von allen einst rief:
"Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen!" Auch
unsere Zeit hat viele heimwehkranke Seelen, trotz der vielen
Heiligtümer und trotz der unzähligen Altäre, die unsere Lande
erfüllen. Was dem Sänger fehlte, das sucht unsere Zeit:
Nicht Kult mit einer Sache, sondern Gemeinschaft mit der
Person! Denn man kann uralte Kultstätten besitzen, von
heiligen Handlungen umgeben sein und doch vor Durst nach
Gott verschmachten.