Ps 22,1
C.H.Spurgeon
,,Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen."
Ps. 22, 1.
Hier erblicken wir den Heiland in der tiefsten Tiefe seiner
Leiden. Kein andrer Ort bezeugt die Bangigkeit und Schmerzen
Jesu so laut wie Golgatha, und kein andrer Augenblick seiner
großen Trübsal ist so voller Todesschrecken, wie der Augenblick,
wo sein Schrei die Luft durchschneidet: ,,Mein Gott, mein Gott,
warum hast Du mich verlassen?" In diesem Augenblick vereinigte
sich große leibliche Erschöpfung mit der furchtbarsten geistigen
Qual ob der Schmach und dem Fluch, durch welche Er hindurchgehen
mußte; und damit sein Leiden die höchste Stufe erreiche,
erduldete Er eine innere Seelenangst, die alle Worte übersteigt,
eine Bangigkeit, die in dem Gefühl des Verlassenseins vom Vater
ihren Grund hatte. Dies war die schwarze Mitternacht seiner
furchtbarsten Schrecknisse; jetzt stieg Er hinab in den tiefsten
Abgrund seines Leidens. Kein Mensch vermag sich zu versenken in
den vollen Inhalt dieser Worte. Manche von uns meinen zuweilen,
sie müßten ausrufen: ,,Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich
verlassen?" Es gibt Zeiten, wo das strahlende Lächeln unsers
Vaters von Wolken und düstern Schatten verhüllt ist, aber wir
müssen bedenken, daß Gott uns in Wahrheit nie verläßt. Es ist
bei uns nur ein scheinbares Verlassensein von Gott, aber bei
Christo war's ein wirkliches Verlassensein. Wir bekümmern uns
über eine kleine Entziehung der Liebe des Vaters; aber Gottes
wirkliches Abwenden seines Antlitzes von seinem Sohn - wer
vermag zu schätzen, welch eine tiefe Seelenpein Ihm dies
verursachte?
,,Laß mich Gottes Zorn erkennen,
Teures Heil! in Deiner Not;
Denn sie war der Hölle Brennen."
Uns gibt gar oft der Unglaube diesen Angstruf ein; bei Ihm war's
der Ausdruck der furchtbarsten Wahrheit, denn Gott hatte sich
Ihm wirklich eine Zeitlang entzogen. O du arme, betrübte Seele,
die sonst im Sonnenschein des göttlichen Angesichts wohnte,
jetzt aber im Dunkel der Bangigkeit schmachtet, halte daran
fest, daß Er dich nicht wirklich verlassen hat. Gott ist auch in
Wolken so gut unser Gott, wie wenn Er im vollen Glanz seiner
Gnade leuchtet; wenn aber schon der Gedanke, daß Er uns
verlassen habe, uns in schwere Kämpfe hineinführt, wie groß muß
erst das Leiden unsers Heilandes gewesen sein, als Er ausrief:
,,Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?"
A.Christlieb
Mein Gott! mein Gott! Warum hast du mich verlassen? Psalm
22, 1
Dieses Kreuzeswort gibt schwer Leidenden einen dreifachen
Hinweis, den man dankbar beherzigen soll. - Jesus greift
nach einem Bibelwort. Das vierte Kreuzeswort ist der Anfang
des 22. Psalmes. David schildert da weissagend die bitteren
Qualen und Leiden, die Jesus auskosten sollte. Jesus greift
nach diesem Psalm, als nach dem Wort, das ihn Schritt für
Schritt geleiten sollte, das ihm Stärkung, Leuchte und
Wegweiser werden sollte im Tal der Todesschatten. - Das
wollen wir in dunklen Stunden wohl bedenken. Menschenwort
hilft dann nicht mehr. Gottes Wort allein gibt im Glutofen
der Leiden Kraft, Labsal und Rettung. Wer in guten Tagen die
Heilige Schrift treulich braucht, hat sie an bösen Tagen als
Begleiter bei sich. - Weiter: Jesus hält daran fest, daß
Gott sein Gott ist, wenn er auch nichts davon fühlt. Er
empfand es tief: Gott hatte sich von ihm zurückgezogen.
Sein Gefühl sagte: Er ist nicht mehr dein Gott. Von der
köstlichen Nähe des himmlischen Vaters war nichts mehr zu
spüren. Aber trotz alledem spricht Jesus zweimal: ,,Mein
Gott!" -
Hier haben wir einen neuen Hinweis für dunkle Stunden. Der
Glaube trotzt allen Gefühlen des Jammers und betet:
,,Wenngleich ich auch nichts fühle von deiner Macht, du
führst mich doch zum Ziele, auch durch die Nacht!" - Ein
dritter Hinweis: Jesus enthüllt im Gebet sein Elend und
seufzt nach einer göttlichen Antwort. Die Worte: ,,Warum
hast du mich verlassen?" enthalten nicht eine Bitte um
Wegnahme des Leidens, sondern nur das Verlangen nach einem
Lichtstrahl in der Dunkelheit. Wir begehen oft den Fehler,
vorzeitig um Wegnahme des Leidens zu beten. Es ist genug,
wenn wir in schwerem Leiden nach Gottes Wort greifen,
glaubend daran festhalten, daß Gott unser barmherziger Vater
ist und um ein Lichtlein seufzen in unserer Finsternis. - Es
geht doch durch Kreuz zur Krone!
Ch.Spurgeon
"Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
Psalm 22,2
Wir sehen unseren Heiland, ans Fluchholz genagelt, in
der äußersten Not, und was nehmen wir da wahr?
Zuerst strahlt der Glaube unseres Heilandes hervor und
fordert uns zu ehrfurchtsvoller Nachfolge auf. Mit beiden
Händen hält sich der Herr Jesus an seinem Gott fest, indem er
ausruft: "Mein Gott, mein Gott." Ach, daß wir geschickt
wären, ihn darin nachzuahmen, uns an den Gott, der uns
Trübsal sendet, so festzuklammern!
Auch mißtraute der große Dulder nicht im geringsten der Macht
Gottes, ihn zu erhalten; denn der hier gebrauchte Gottesname
"El" bezeichnet Gott als den Starken, Mächtigen. Er weiß,
daß Gott sein allgenugsamer Helfer und Beistand ist, und
darum wendet er sich an ihn, gemartert von Seelenangst, doch
nicht von der Pein des Zweifels. Er möchte durchaus wissen,
warum er von Gott verlassen ist, aber bei alledem mißtraut er
weder der Macht noch der Treue Gottes. Warum? Was ist die
Ursache dieser seltsamen Tatsache, daß Gott seinen Sohn zu
einer solchen Stunde, in solchem Zustand allein läßt? Der
Herr Jesus hatte doch keine Veranlassung dazu gegeben.
Der Heiland empfindet diese schreckliche Wirklichkeit,
während er die Frage ausruft. Es war nicht etwa die drohende
Gefahr, verlassen zu werden, was unserem großen Dulder
den lauten Schrei auspreßte, sondern er erfuhr dieses
Verlassensein in voller Wirklichkeit. Mir war es, als hörte
ich ihn sagen: "Ich kann es verstehen, warum mich der
verräterische Judas und der furchtsame Petrus verlassen
haben, aber du, mein Gott, mein treuer Freund, wie kannst
du mich verlassen? Das ist das Schlimmste von allem,
ja schlimmer als alles andere zusammen. Hättest du mich
gezüchtigt, ich könnte es wohl ertragen, denn dein Angesicht
würde mir dennoch leuchten; aber mich gänzlich verlassen!
Warum das? Mich, der ich unschuldig, gehorsam und treu war -
warum überläßt du mich dem Verderben?"
Ein Blick der Buße auf uns selbst und des Glaubens auf Jesum
wird uns die Frage am besten lösen. Der Herr Jesus war von
Gott verlassen, weil uns unsere Sünden von Gott geschieden
hatten und er diese Sünden auf sich genommen hatte.