Hi 15,14
C.O.Rosenius
Was ist ein Mensch, daß er sollte rein sein, und daß der
sollte gerecht sein, der vom Weibe geboren ist? Hiob 15, 14.
Die Erkenntnis der Sünde beruht darauf, wieviel Gott dem
Menschen bedeutet. Hat er einen wirklichen, wahrhaftigen und
heiligen Gott vor sich, dann kann er verzehrt werden, wie
es die Beispiele aller Heiligen zeigen. Oder gibt es einen
einzigen so heiligen und ernsten Christen, der auch nur eine
einzige Stunde das erfüllt, was das erste und vornehmste
Gebot fordert? Was aber ist alle Frömmigkeit, wenn du dies
Gebot nicht hältst? Es fordert, daß du Gott, deinen Herrn,
lieben sollst von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem
Gemüt und von allen deinen Kräften, außerdem, daß du so ganz
und gar Ihm vertrauen und Ihn fürchten sollst, wie es Seine
göttliche Treue und Allmacht verdient. Wenn du Gott von
ganzem Herzen so liebst und nur Ihm vertraust, so daß Er
allein Gegenstand deiner Liebe, deines Vertrauens und deiner
Furcht ist, wird deine Seele dann nicht in einer ewigen Ruhe
sein, in einem unerschütterlichen Genießen des einzigen
Gutes, dessen du begehrst, des unvergänglichen Gottes? Dann
mußt du glauben, daß ohne den Willen deines himmlischen
Vaters nicht ein Haar von deinem Haupte fällt, daß also ohne
Seinen Willen dir nicht das geringste geschehen, nicht ein
Wort oder ein Blick dich verwunden kann. - Wenn du nur Ihn
und Sein Wohlgefallen liebst, dann muß das ja zur Folge
haben, daß du in jedem Augenblick ruhig und glücklich bist,
was dir auch immer widerfahren mag, weil du ja weißt, daß
alles von deinem Gott kommt, und weil du nichts anderes als
Sein Wohlgefallen liebst. Wo ist aber der Mensch, der dieses
Gebot willig und recht hält?
Wir wollen jetzt mit einem solchen reden. Bist du ebenso
ruhig und glücklich, wenn dir jemand das Liebste raubt, was
du auf Erden hast? Bist du ebenso ruhig und glücklich, wenn
dir jemand dein ganzes Eigentum nimmt und du in Armut und Not
gerätst? Bist du ebenso ruhig und glücklich, wenn dir jemand
deinen guten Namen und deinen guten Ruf raubt, wenn du für
dein ganzes Leben deiner Ehre verlustig gehst und von allen
Menschen verachtet und gemieden wirst? Bist du ebenso ruhig
und glücklich, wenn eine schwere Krankheit, ja, gar ein
Mörder dein Leben verkürzen sollte? Wenn es wahr ist, daß du
Gott von ganzem Herzen, von ganzem Gemüt und von allen deinen
Kräften liebst, an Ihn allein glaubst und gewiß bist, daß dir
ohne Seinen Willen nichts widerfährt, dann mußt du unbedingt
ebenso ruhig und glücklich in allen diesen Fällen sein.
Vielleicht aber bist du so weit davon entfernt, daß du im
Gegenteil schon von einem ganz geringen Verlust beunruhigt
wirst, so daß, wenn du nur erfährst, wie man übel von dir
geredet oder eine deiner Schwächen bloßgelegt hat, dies dann
deine Ruhe für lange Zeit stört? Ja, vielleicht beunruhigt
dich schon ein verächtlicher Blick? Wie aber liebst du dann
einzig und allein Gott und Sein Wohlgefallen? Vielleicht
liebst du im Gegenteil viel ernstlicher einen Menschen und
denkst an ihn? - Aber weiter: Ist es nicht wahr, daß wir,
die wir mit dem Blut des Sohnes Gottes von allen Sünden, vom
Tod und von der Gewalt des Teufels erlöst sind, kein höheres
Lebensziel haben sollten, ,als Ihn zu verherrlichen, der für
uns gestorben und auferstanden ist? Ist das nun wirklich
jeden Augenblick dein Bestreben? Ist es nicht wahr, daß,
wenn du Gott von ganzem Herzen liebtest, du dich dann auch
bei nichts anderem als im Gebet und im vertraulichen Gespräch
bei Gott wohlbefinden würdest? Ist es wirklich so, daß du
mit Ihm beständig im Gebet umgehen willst? Oder bist du
soweit davon entfernt, daß du lieber häusliche Geschäfte
verrichtest, als im Gebet mit Gott umzugehen? In welchem
Verhältnis stehst du zu dem ersten und vornehmsten Gebot?
Sodann solltest du auch deinen Nächsten lieben wie dich
selbst. Denke immer ernstlich an die ersten Gebote des
Herrn, deines Gottes. Was ist alle Frömmigkeit, wenn wir
nicht vor allen Dingen die wichtigsten Gebote halten? Ist
es wirklich Wahrheit, daß du ebensosehr um das Wohl deines
Nächsten wie um das deinige besorgt bist? Bedenke, daß mit
deinem ,,Nächsten" nicht nur der eine oder andere Freund,
sondern alle Menschen - Freunde und Feinde - gemeint sind.
Bist du um den Vorteil eines jeden Menschen ebenso besorgt
wie um deinen eigenen? Bist du wegen eines tadelnden Wortes
über deinen Nächsten ebenso empfindlich, als wenn du hörst,
daß man schlecht von dir redet? Liebst du deinen Nächsten
wie dich selbst, dann mußt du mit demselben Fleiß und Ernst
um seine Bekehrung genauso eifern, als ob es deine eigene
Seligkeit oder Verdammnis gelten würde. Vielleicht bemühst
du dich um einige wenige, siehst aber viele Unbekehrte, um
deren Erweckung du dir nicht die geringste Mühe machst. Wie
steht es also mit deiner Liebe zum Nächsten? Und wie sieht
es mit der Befolgung aller anderen Gebote aus? Ist es nicht
so, daß sich bei ganz geringem Anlaß viele unheilige Dinge in
deinem Herzen regen, die Gott haßt und verdammt, wie z. B.
Zorn, Neid, Haß oder Hochmut und Eigenliebe oder unreine
Lüste oder Begehren nach dem Eigentum anderer usw.?
Und doch reden wir von den gläubigen Christen, die wach sind
und ihre Sünden fühlen. Müssen die Heiligen nicht flehen:
,,Gehe nicht ins Gericht mit Deinem Knechte; denn vor Dir
ist kein Lebendiger gerecht"? Die Schrift bezeugt: ,,Siehe,
unter Seinen Heiligen ist keiner ohne Tadel." ,,Was ist ein
Mensch, daß er sollte rein sein, und daß der sollte gerecht
sein, der vom Weibe geboren ist? Die Himmel sind nicht rein
vor Ihm. Wieviel weniger ein Mensch, der ein Greuel und
schnöde ist, der Unrecht säuft wie Wasser."