Ri 16,1
A.Christlieb
Simson ging nach Gaza und sah daselbst eine Hure und kam zu
ihr. Richter 16, 1
Welches widernatürliche Bild: Ein Mann Gottes, der eben erst
ein Wunder herrlicher Gotteshilfe erlebt hat, ein Mensch
voller Kraft und Glauben, ein Richter und Retter Israels, ein
Mann, getrieben vom Geist Gottes: So ein Mann in den Fängen
einer Hure! Nur mit tiefster Wehmut kann man dieses Bild
betrachten. Wie ist es nur möglich, daß er so zu Fall kommen
konnte? - Erschütternde Gegensätze treten in Simsons Leben
zutage. Der Mann ist so stark und doch so schwach. Er ist
so stark, daß er ein schweres Stadttor aus den Angeln heben
und wegzutragen vermochte. Wer könnte stärker gewesen sein,
als Simson? Und dieser Riese an Kräften ist so schwach, daß
eine schlechte Frau ihn gängeln kann! - Sodann: Dieser Mann
kann sich frei bewegen, kann hingehen, wo er Lust hat. Er
hat es gewagt, ganz allein in Gaza, die Hauptstadt seiner
Feinde, einzudringen. Alles wich wie von Angst gelähmt vor
ihm aus. Und derselbe Mann ist so unfrei und gebunden, daß
der Blick einer Dirne ihn bannt! Die Macht der Leidenschaft
bindet ihn stärker als eiserne Ketten! Er sieht die Dirne.
Er geht zu ihr. Er kommt nicht wieder von ihr los. - Und
endlich: Wie hoch steht dieser Mann und doch wie tief. Er
steht hoch. Er ist ein Verlobter Gottes, Richter, Retter und
Heiland des Volkes. Und doch lebt er in solchen Tiefen. Er
wälzt sich im Schlamm der Unzucht. - Der Abschluß seines
Lebens aber ist versöhnend. Gott läßt ihn schwerste
Bestrafung durchleiden. Man sticht ihm die Augen aus. Man
bindet ihn in Ketten. Eine Eselsmühle muß er treiben
lebenslang. Zuletzt aber kehrt er zurück zu Gott und
scheidet als begnadigter Beter. Gottes Erbarmen ist stärker
als unsere Sünde!