2Mo 20,13
D.Rappard
Du sollst nicht töten.
2. Mos. 20,13.
Die Worte Jesu in der Bergpredigt sind eine ernste
Ergänzung zu diesem Gebot: Ihr habt gehört, daß zu den
Alten gesagt ist: Du sollst nicht töten. Ich aber sage euch:
Wer mit seinem Bruder z ü r n t, der ist des Gerichts schuldig
(Matth. 5, 21 ff.). Und der Apostel Johannes schreibt: Wer
seinen Bruder hasset, der ist ein Totschläger, und ihr wisset,
daß ein Totschläger nicht hat das ewige Leben in ihm bleibend
(1. Joh. 3, 15).
Unter der strafenden, überführenden Macht des Heiligen
Geistes (Joh. 16, 8) hat schon manch ein gebeugter Sünder
ausgerufen: Wehe mir, ich bin ein Mörder! Und manch ein
begnadigtes Gotteskind denkt mit Scham zurück an Aufwallungen
des Zorns, die leicht zu einem verletzenden, vielleicht
tödlichen Schlag hätten führen können.
Es gibt ein langsames, verborgenes Töten durch fortgesetzte
eisige Kälte, Mißgunst oder Geiz, auch in Familien, die
Christi Namen tragen. O, davor hüte sich, wer einzugehen hofft
in die Perlentore des Neuen Jerusalems!
D u s o l l s t l i e b e n! So heißt das große Gebot der
Gnade, und sie gibt zugleich die Kraft, das Gebot zu erfüllen.
So bezeugt der gottselige Gerhard Tersteegen: ,,Ich finde gegen
keinen einzigen Menschen etwas anderes in meinem Gemüte, als nur:
u n b e d i n g t e V e r s ö h n u n g, a u f r i c h t i g e
B e u g u n g und h e r z l i c h e L i e b e."
Herr, laß mich so in Dir bleiben, daß Deine
Liebe in meinem Herzen jedes Gefühl vertilge,
was nicht Liebe ist.
C.O.Rosenius
Du sollst nicht töten! 2. Mos. 20, 13.
Wenn wir die Erklärung Jesu über dieses Gebot (Matth. 5)
recht beachten, dann werden wir finden, daß der Blick und die
Gedanken Gottes etwas tiefer als die unsrigen gehen, daß
nämlich Gott den inwendigen Menschen ansieht und daß der
große Schöpfer und Vater der Geister unseren Geist, unser
Herz, unsere innersten Gedanken vor Augen hat. Er meint mit
dem Worte ,,nicht töten" viel mehr, als daß du einem Menschen
nicht das Leben rauben sollst. Er sieht nicht nur auf deine
Hand, sondern auf dich, dein ganzes Wesen, dein Herz, deine
Gemütsbewegungen, deine Zunge, deinen Blick, deine geheimste
Meinung, ja, auf deine Liebe oder Lieblosigkeit. Denn Er
sagt: ,,Du sollst nicht töten." Und was bedeutet das Wort
,,du"? Wahrlich nicht deine Hand, deine Zunge oder ein
besonderes Glied, sondern gewiß den ganzen Menschen, und in
erster Linie die Seele. Wenn ich Sage: Du sollst das oder
das nicht tun, so rede ich ja nicht zu der Hand, sondern zu
der ganzen Person. Und wenn ich auch sagte: Deine Hand soll
das nicht tun, so spräche ich dennoch eigentlich nicht zu der
Hand, sondern zu dir selbst, zu deiner Seele, deinem Verstand
und Herzen, die der Hand befehlen; denn die Hand ist nur eine
Dienerin unter der Seele, unter dem Verstand und dem Willen.
So können wir verstehen, daß Gott den inwendigen Menschen
ansieht. Darum bedeutet das Wort ,,Du sollst nicht töten"
dasselbe, wie wenn Er sagte: Alles, was in dir ist, soll
nicht töten. Wie viele Arten des Tötens man auch immer
erdenken mag - sei es mit der Hand, der Zunge, dem Herzen
oder mit Zeichen und Gebärden, mit zornigen Blicken oder mit
den Ohren, die nicht leiden, daß von jemandem gut gesprochen
wird -, dieses alles heißt töten. Damit ist das Herz und
alles in dir so gesinnt, daß du vor den Augen Gottes ein
Mörder bist. - Beachte dies!
Um nun alles das, was im fünften Gebot verboten wird, zu
sammeln und zusammenzufassen, so finden wir zuerst die Tat
selbst, den Totschlag. Kein Mensch als solcher hat das
Recht, das Leben irgendeines Menschen zu verkürzen. Wenn
die Obrigkeit jemanden am Leben straft, so ist das nicht die
Tat eines Menschen, sondern Gottes, der in Seinem Gesetz
ausdrückliche Befehle über die Hinrichtung des Menschen
gegeben und dazu die Obrigkeit verordnet hat, auf daß sie
nicht umsonst das Schwert trage; denn sie ist ,,Gottes
Dienerin, eine Rächerin zur Strafe über den, der Böses tut",
wie Paulus in Röm. 13, 4 schreibt.
Gott verbietet jeden noch so kleinen Anfang zum Totschlag,
auch wenn die Tat nicht ganz vollendet wird. Denn schon der
bloße Zorn des Herzens, der gewöhnlich nicht verborgen
bleiben kann, sondern sich zum mindesten durch ein finsteres
Angesicht oder in bitteren Worten und Gebärden, vielleicht
auch nur durch ein bloßes Seufzen äußert, ist nicht nur
sündig vor den Augen Gottes, sondern ist auch ein in der
Tat begonnener Totschlag. Kurz - alles, was jemals in einem
bitteren, gehässigen, neidischen, rachgierigen und lieblosen
Sinn gedacht, geredet oder getan wird, ist eine Sünde gegen
das fünfte Gebot - ist in den Augen Gottes ein Totschlag.
Hier straft z. B. ein Vater in zügellosem Zorn sein Kind.
Gewiß ist er die rechte Person, die es strafen soll; aber
wir reden von dem Vater, der es nicht aus Liebe, aus Eifer
und Fürsorge um das Wohl des Kindes, sondern aus Zorn, in
gereizter Stimmung oder zügelloser Wut tut. Im Augenblick
der Bestrafung bedenkt er nicht, welchen Schaden sein Kind an
Leib und Seele nehmen kann. Er sucht nur seine Leidenschaft
zu befriedigen. Steht dieser Vater nicht wie ein Mörder
seines Kindes da? - Dort überschüttet eine erzürnte Mutter
mit der Leidenschaft ihres Herzens früh und spät ihr Kind mit
unausgesetzten und planlosen Zurechtweisungen und Strafen für
kleinere oder größere Versehen und bedenkt nicht, welche
glühenden Kohlen sie dadurch auf die geistlichen und
leiblichen Lebenskräfte ihres Kindes legt. Was ist eine
solche Mutter vor Gott? Wir reden von einer, die nur von
zügellosem Zorn beherrscht wird. Sie ist nichts anderes als
eine Mörderin ihres Kindes. - Hier tobt ein Mann in wildem,
unaufhaltsamem Zorn gegen seine Gattin, für die er alle
Zärtlichkeit und Liebe, alle Verträglichkeit und Nachsicht
an den Tag legen sollte, dort plagt eine boshafte Frau ihren
Mann Tag und Nacht mit bitteren, stechenden Worten oder mit
einem kalten, lieblosen Wesen. Was ist nun alles das vor
den Augen Gottes? Es ist nicht nur vor den Augen Gottes,
sondern in der Tat und in Wirklichkeit nichts anderes als
angefangener Totschlag! All dieser Zorn, diese schonungslose
Bitterkeit gegen die Mitmenschen - wie sollen sie dem milden,
barmherzigen Herrn gefallen?
Aber zu den Taten, mit denen wir einen Totschlag anfangen,
gehört auch, dem Nächsten seine Nahrung zu rauben oder dem
leiblich Bedürftigen nicht zu helfen. Wenn die Schrift sagt:
,,Wer einem seine Nahrung nimmt, der tötet seinen Nächsten,"
so liegt darin auch, daß, wenn du deinen Nächsten Not leiden
siehst, du aber dein Herz vor ihm zuschließest und ihm nicht
das gibst, was er zu seinem Leben braucht, du dann allest
tust, was in deinen Kräften steht, um ihn zu töten. Denn
wenn alle ebenso handelten wie du, dann würde der Notleidende
wirklich getötet. Bist du dann nicht an dem Totschlag
beteiligt, und hast du nicht auch in der Tat Anteil an einem
Mord, genauso wie der, der seinen Nächsten in Feuers- oder
Wassersnot sieht und ihm nicht zu helfen sucht?