Röm 14,13
C.O.Rosenius
Laßt uns nicht mehr einer den anderen richten, sondern das
richtet vielmehr, daß niemand seinem Bruder einen Anstoß oder
ein Ärgernis darstellet. Röm. 14, 13.
Der Apostel redet hier in einem zärtlich bewegenden Ton. Er
schließt auch sich selbst in seinen ausgesprochenen Wunsch
mit ein, wenn er sagt: ,,Laßt uns nun nicht mehr einer den
anderen richten!" Daraus müßten wir merken, daß unsere
Neigung, die Brüder zu richten oder zu verachten, sehr stark
ist, aber auch, daß diese Sünde bedeutender und verderblicher
ist, als wir denken.
Unsere Neigung dazu ist sehr stark. Das können wir
feststellen, wenn wir auf uns selbst achtgeben. Wie sind
wir doch bereit, bei allen möglichen Anlässen unsere Brüder
zu richten! Diese Neigung klebt uns allen an, ist aber
besonders vorherrschend bei ungebrochenen, eigenliebigen
Menschen, die den Forderungen Gottes an den inwendigen
Menschen noch nicht stillhielten und darum weder von ihrem
eigenen Elend recht gestraft noch von der Gnade Gottes
durchdrungen wurden. Doch spüren wir nicht alle diese
Neigung in uns? Schon wenn der Bruder nicht die gleiche
Ausdrucksweise hat, an die wir uns gewöhnt haben, sind
wir sofort geneigt, sein eigentliches Leben zu bezweifeln,
obwohl er nichts sagte, was etwa eine Unbußfertigkeit oder
Falschheit des Geistes bewies. Schon wenn er eine andere
Meinung hat als wir in einer Frage, die nicht den Lebenspunkt
betrifft, oder wenn er ein anderes Benehmen, eine andere
Weise in der Kleidung, im Essen oder Trinken hat, sofort
mißtrauen wir seiner Aufrichtigkeit und seinem Ernste.
Treffen wir zudem eine wirkliche Sünde oder Schwachheit bei
ihm an, dann meinen wir, ihn mit vollem Recht richten zu
dürfen, ohne ihn erst zu hören, inwiefern er etwa einer klar
erkannten Sünde huldigt oder aber im Gegenteil in der Buße
und im Kampf gegen diese Sünde steht. Luther sagt: ,,Wir
sind so törichte Heilige, daß wir, obwohl wir selbst alle
Tage mit der Sünde zu kämpfen haben und unser ganzes Leben
lang stets der Vergebung bedürfen, doch wollen, daß der
Bruder ganz fehlerfrei sein soll." Wenn er nun zudem einen
Fehler gegen uns begangen hat, ein verletzendes Wort oder
dergleichen über uns geäußert hat, dann haben wir sofort
Falkenaugen, alle Fehler an ihm zu sehen.
So ist das Menschenherz. Und hier ist die eigentliche
Quelle, aus der das viele Richten, Verachten und alle
Lieblosigkeit fließen. Es ist das Herz, es ist unsere Natur
mit aller ihrer Bosheit, Selbstsucht und Eigenliebe, wodurch
selbst die Gläubigen oft so verblendet sind, daß sie nichts
anderes wissen, als daß sie von einem ,,heiligen Eifer"
getrieben werden, wenn sie ihren Bruder richten und
verachten, obgleich sie dadurch dieser Ermahnung und dem
Gebot der Liebe ganz zuwiderhandeln, weil sie mit ihrem
Richten dem Nächsten nichts Gutes, sondern nur Böses tun.
Dieses Richten ist ein viel größeres Übel, als wir gewöhnlich
meinen. Wir halten es zumeist für eine geringe Sache, wenn
nicht für etwas geradezu Gutes, ja, Gerechtes, daß wir
unseren Bruder richten. Es ist aber im Gegenteil ein sehr
böses, verderbliches Laster. Nicht genug damit, daß der
Richtende das Majestätsrecht Gottes über Seine Knechte
mißachtet und in etwas eingreift, was allein dem Herrn
gebührt, - er verursacht auch seinen Mitmenschen viel Böses.
Wieviel Bitterkeit und Lieblosigkeit, wieviel Spaltungen und
Parteiungen sind allein durch das unzeitige Richten eines
Menschen entstanden! Während eine demütige und vertrauliche
Ermahnung stets geeignet ist, Besserung zu bewirken, ist
dagegen alles Richten über die innere Stellung und die
geheimen Absichten des Herzens geeignet, Bitterkeit
und Bosheit, Trennung von den Brüdern, Parteiungen und
Streitigkeiten zu bewirken. Kurz, das Richten ist ein in
jeder Beziehung verabscheuungswürdiges Übel. Dies war auch
sicher der Grund, weshalb der Apostel uns so unermüdlich
warnt und uns schließlich sagt: ,,Darum laßt uns nicht mehr
einer den anderen richten."
,,Sondern das richtet vielmehr, daß niemand seinem Bruder
einen Anstoß oder ein Ärgernis darstelle!" Hier wendet der
Apostel das Wort ,,richten" in einer besonderen Bedeutung an.
Zuvor wurde damit das den Menschen unerlaubte Richten über
das Gewissen, über die innere Stellung und andere verborgene
Zustände der Brüder bezeichnet. Hier dagegen bedeutet es,
daß ich einen festen Gerichtsbeschluß über mich fasse, nie
einem Bruder Anstoß oder Veranlassung zum Fall geben zu
wollen. Hier will der Apostel sagen: Statt eure Gedanken
auf ein liebloses Richten zu verwenden, laßt uns von der
Liebesabsicht in Anspruch genommen werden, so daß ihr euch
danach richtet oder dafür entscheidet, den Brüdern nie eine
Veranlassung zum Anstoß zu geben. Die Wörter ,,Anstoß" und
,,Ärgernis" haben im Grundtext die gleiche Bedeutung, nämlich
,,Anstoß und Anlaß zum Fall zu geben" oder ,,das Gewissen zu
verwirren", den Bruder in Unruhe und Verwirrung zu bringen.
Das könnten die Stärkeren nämlich durch einen unzeitigen
Gebrauch ihrer Freiheit tun, wodurch die Schwachen entweder
über die rechte Auffassung des Evangeliums in Unruhe und
Verlegenheit gebracht oder aber dazu versucht wurden, einer
Lebensweise zu folgen, von deren Erlaubtsein sie noch keine
volle Gewißheit hatten. Christen dürften solches nicht
verursachen, sie müßten vielmehr fest beschließen, dem Bruder
nie Anlaß zur Verwirrung zu geben.
Drum lasset uns lieben und freuen von Herzen,
Versüßen einander die Leiden und Schmerzen!
Dringt innig, ihr Herzen, in Jesu hinein,
So mehr'n sich die Strahlen vom göttlichen Schein.