Röm 10,3
C.O.Rosenius
Sie trachten, ihre eigene Gerechtigkeit aufzurichten.
Röm. 10, 3.
Es geschieht dies in sehr verschiedener Weise, je nach dem
ungleichen Grade der Erleuchtung oder der Finsternis, die
einen Menschen beherrscht. Die Juden wähnten durch einige
äußere Werke nach dem Gesetz gerecht zu sein, durch ihre
Opfer, ihre Gebete und Almosen oder durch ihre äußere
Ehrbarkeit, weil sie ja keine offenbaren Mörder, Ehebrecher,
Diebe usw. waren. Leider genügt dies auch dem großen Haufen
unter uns, um sich als gerecht oder doch wenigstens als
annehmbar vor Gott anzusehen. Diejenigen dagegen, die
einiges von der Heiligkeit Gottes verstanden haben, legen
noch etwas mehr hinzu, wie z. B., daß man Gott lieben, Sein
Wort schätzen und betrachten und den Feiertag heiligen müsse
usw. Sie können dabei aber noch in ungestörter Verbindung
mit der ehrbaren Welt stehen. Bei noch etwas mehr Licht
findet man, daß man sich auch von dem Wesen der Welt bekehren
und ein geistlicher Mensch werden soll, daß man seine Sünden
bereuen und ablegen, wachen und beten, den Lüsten des
Fleisches entsagen und an Jesus glauben soll - dies letztere
auch als ein Gesetzeswerk. Mancher nimmt auch teil an einer
geistlichen Wirksamkeit für die Mission oder für andere
wohltätige Zwecke. Alles solches ist aber nur ein Trachten
nach der Aufrichtung der eigenen Gerechtigkeit, solange der
Mensch darin seinen Seligkeitsweg, seine eigentliche Hoffnung
hat und noch nicht durchs Gesetz dem Gesetz gestorben ist.
,,Demnach bezeichnen diese Werke, daß man seine eigene
Gerechtigkeit aufrichten will?" dürfte jemand fragen.
Antwort: Gewiß nicht! Diese und noch andere Werke können
auch im echten Glauben und in wahrer Gottesfurcht getan
werden. Die Werke bezeichnen die Selbstgerechtigkeit also
nicht; höre aber und beachte, was diese bezeichnet! In
solchen oder ähnlichen Übungen oder Werken besteht der
Seligkeitsweg und der innerste Herzenstrost dieses Menschen,
auch wenn er den Glauben an Christus und Seine Versöhnung
richtig bekennt. Diese in unserer aller Natur liegende tiefe
Hoffnung auf unsere eigene Gerechtigkeit soll durch die
heiligen Forderungen Gottes getötet werden, so daß der Mensch
seine ernsteste Frömmigkeit und seine besten Werke für
,,Schaden und Dreck" zu achten lernt, wenn es vor Gott zu
bestehen und gerecht zu sein gilt. Auch seine besten Werke
sind mit der Sünde befleckt und er muß Gnade und Vergebung
dafür suchen. Wenn er aber im Gegenteil zu diesen frommen
Übungen und Werken hinflieht, um in ihnen Ruhe und Trost
gegen die Sünde zu finden, dann bezeichnet diese ganze
Frömmigkeit einen selbstgerechten Menschen.
Ganz anders ist es, wenn der Mensch an sich selbst, an seiner
eigenen Frömmigkeit und Kraft gänzlich verzweifelt, wegen
aller Dinge bestraft und schuldig wird, seinen alleinigen
Trost aber in Christi Werken, in Christi Gehorsam, Christi
Leiden und Christi Gebeten hat und nur durch die große, freie
Gnade belebt wird, das Gute zu tun. Dann sind die Werke
Früchte des Geistes, dann sind sie Gott wohlgefällig.
Hiermit ist aber nicht gesagt, daß diese Gläubigen nun
von aller Selbstgerechtigkeit frei sind. Gewiß nicht! Ihre
Selbstgerechtigkeit ist aber nicht mehr ihr Seligkeitsweg,
sondern ihre Anfechtung und Plage, der sie wie jeder anderen
Versuchung und Sünde begegnen, nämlich dadurch, daß sie
diese selber strafen und ihr entfliehen. Um eine solche
anfechtende und beschwerende Selbstgerechtigkeit handelt es
sich hier aber nicht, sondern der Apostel redet von solchen
Menschen, die vorsätzlich oder in wirklicher Absicht selbst
vor Gott zu bestehen und ihre eigene Gerechtigkeit
aufzurichten trachten, der Gerechtigkeit Gottes also
nicht untertan sind.
Der Grund eines so vorsätzlichen Bestrebens, die eigene
Gerechtigkeit aufzurichten, ist der, daß man weder die Tiefe
des eigenen Verderbens noch die heiligen Forderungen Gottes
recht erkennt. Man scheint nicht zu beachten, daß der Herr
die Reinheit des Herzens fordert, da man in der eigenen
Frömmigkeit nur auf äußere Werke sieht. Und in dieser Weise
kann man in seinen eigenen Augen gut und fromm werden. Dazu
ist nur erforderlich, so heuchlerisch zu sein, daß du dich
nicht um das Herz kümmerst, inwiefern dies zu allen Zeiten
gut, rein, demütig, mild und liebevoll ist, sondern daß du
nur auf Werke blickst. Dann kannst du so fromm werden, wie
du es bedarfst, um in dir selbst Trost zu haben, und dann
bist du mit deiner ganzen Frömmigkeit ein Pharisäer geworden.
Wenn jedoch der Herr so vor deiner Seele gestanden hat, daß
es dir wichtig geworden ist, in allen Dingen, auch im Herzen
und zu allen Zeiten heilig und so zu sein, wie es sich vor
Gottes Augen gebührt, dann wirst du auf Erden nie mit dir
zufrieden, nein, dann kannst du wohl oft die Sünde so
schrecklich mächtig, so zahlreich und greulich fühlen, daß
du nicht mehr weißt, wohin du dich wenden sollst. Manchmal
wirst du ganz nahe am Verzweifeln sein, ungeachtet aller dir
im Evangelium verkündigten Gnade. Dann kannst du dich nicht
mehr fromm oder gerecht in dir selbst sehen, sondern wirst
ein elender Sünder, der beständig der Gnade, beständig des
Heilandes und Seiner Versöhnung, Seiner Fürsprache und Seines
Schutzes bedarf. - Nun bist du ein Christ!
Ihn, Ihn selber will ich haben
Und in Ihm erfunden sein;
Sagt mir nichts von hohen Gaben,
Noch von guter Werke Schein.
Das, was mich so hoch erfreut,
Ist nicht eigne Heiligkeit;
Nichts gibt mir ein Recht zum Leben,
Er muß mir's aus Gnaden geben.