Apg 22,25
A.Christlieb
Die Berufung des Paulus auf sein römisches Bürgerrecht.
Apostelgeschichte 22, 25 - 30.
Das römische Bürgerrecht war ein großer Vorzug. Ein
römischer Bürger brauchte sich nicht ohne weiteres eine
entehrende Behandlung seitens eines Richters gefallen zu
lassen. Ein Bürger durfte nicht ohne Untersuchung gefesselt
werden (Vers 29 b). Auch konnte ein solcher sich auf den
Kaiser berufen, d. h. verlangen, daß seine Sache
unmittelbar vor dem Richterstuhl des römischen Kaisers
entschieden werde (Kap. 25, 10-12). Dieses Bürgerrecht
besaß Paulus. Unser Text erzählt uns: wie er es bekommen
hatte, welchen Gebrauch er davon machte, und welche Wirkung
dadurch erzielt wurde.
I.
Erlangt hatte Paulus das Bürgerrecht nicht durch irgendwelche
Bemühungen. Er hatte es ererbt (Vers 28). Schon von
Kindesbeinen an besaß er es.
Darin dürfen wir eine Fürsorge Gottes erblicken, der im Leben
des Apostels alle Umstände im Blick auf seinen späteren Beruf
leitete. Wie die Bildung, die ihm zuteil wurde, so mußte
auch das angeborene römische Bürgerrecht zur Erfüllung seiner
späteren Aufgaben dienen.
Laßt uns die Vorsehung Gottes, die sich im Leben seiner
Kinder erweist, anschauen, und unsern Glauben dadurch
stärken.
II.
Wie gebraucht Paulus dieses Bürgerrecht?
Die mit demselben verbundenen Vorrechte brachten für
den Besitzer die Gefahr des Stolzes und falschen
Selbstbewußtseins mit sich. Wie konnte man da verächtlich
herabsehen auf die, welche dieses Recht nicht hatten.
Selbstverständlich hat Paulus seinen Vorzug nicht in diesem
Sinne mißbraucht. Er ließ nie da und dort prahlerisch
durchblicken, daß er römischer Bürger sei. Nur da, wo die
Umstände es rechtfertigten, machte er von diesem Vorrecht
Gebrauch. Hier, wo er widerrechtlich gegeißelt werden
sollte, nachdem er schon körperliche Mißhandlungen durch den
Volkshaufen erfahren hatte (Kap. 21, 30 - 32), machte er
sein römisches Bürgerrecht geltend.
Eigensinnige und rechthaberische Menschen, die immer wieder
ihr eigenes Recht - nötigenfalls mit Gewalt - durchzudrücken
versuchen, haben kein Recht, sich auf diese Stelle und das
Beispiel des Paulus zu berufen.
Andererseits dürfen Jünger Jesu hier lernen, daß sie kein
unnötiges Märtyrertum auf sich zu nehmen brauchen. Es
gibt Fälle genug, wo sie sich still und duldend - ohne zu
widersprechen - verhalten müssen. Das Wort Jesu: ,,Daß ihr
nicht widerstreben sollt dem Übel" (Matthäus 5, 39), behält
voll und ganz seine Gültigkeit. Paulus hat dies gewiß
befolgt.
Hier aber, wo er, ohne einen andern zu schädigen und zu
verletzen, unnötige Qualen vermeiden konnte, tat er dies.
So dürfen auch wir, wenn wir in der Liebe bleiben, andere
auf ein Unrecht hinweisen und von dem uns zustehenden Recht
Gebrauch machen. Laßt uns nur zusehen, daß wir dies, so wie
Paulus, nicht in Zorn und in fleischlicher Erregung, sondern
in gebührender Weise tun. Laßt uns in Pauli Fußstapfen
treten, wie er Jesus nachfolgte (Johannes 18, 23).
III.
Die Wirkung des Hinweises auf das römische Bürgerrecht äußert
sich in einem heilsamen Erschrecken des Oberhauptmannes.
,,Der Oberste hatte einen Schrecken bekommen, als er erfuhr,
daß er ein römischer Bürger sei, und weil er ihn hatte
fesseln lassen" (Übersetzung Menge).
Er sah ein, daß er voreilig gehandelt habe. Er wußte nun,
daß der vermeintliche Übeltäter nicht wie irgendein Sklave
behandelt werden durfte, sondern unter besonderem Schutz der
römischen Staatsgesetze stehe. Er mußte befürchten, daß
die ganze Angelegenheit wegen der Überschreitung seiner
Befugnisse für ihn üble Folgen haben könne. Dieses
Erschrecken war heilsam und gut. Es machte ihn behutsam und
vorsichtig in der ferneren Behandlung seines Gefangenen.
Auf Menschen, die wenig oder gar kein geistliches Verständnis
haben, macht auch heute noch der Hinweis auf eine bestehende
Rechtsordnung - etwa die Erwähnung eines gewissen
Gesetzesparagraphen - mehr Eindruck als alles andere.
Was jede höfliche Bitte und jede sittliche Belehrung nicht
bewirken könnte, das bringt bisweilen ein Hinweis auf ,,das
römische Bürgerrecht" in einem Augenblick fertig.
Welch ein Vorzug war doch das römische Bürgerrecht! Nicht
jeder von uns kann solch äußeren Vorzug erlangen. Aber ein
anderes Bürgerrecht, das unendlich wichtiger ist als jenes,
besitzt jeder wahre Christ im Glauben. ,,Unsere Gemeinde, in
der wir das Bürgerrecht haben, ist in den Himmeln" (Philipper
3, 20; Übersetzung Schlatter). So rühmt der Apostel, der
sein römisches Bürgerrecht nur selten hervorkehrt. Wenn
schon ein römischer Bürger angesehen war und nicht angetastet
werden durfte, wenn er den Schutz des großen römischen
Weltreiches genoß, wie viel höher steht dann ein wahrer
Untertan und Bürger des unbeweglichen Reiches (Hebräer 12,
28). Wohl allen, die dieses ewige Bürgerrecht besitzen und
achthaben, daß sie desselben nicht verlustig gehen.