Apg 22,2
A.Christlieb
Eine dreifache Rücksichtnahme des Apostels auf seine Zuhörer.
Apostelgeschichte 22, 2.
Es ist lieblich zu beobachten, mit welch zarter
Rücksichtnahme Paulus seine erregten Zuhörer behandelt. Das
sehen wir an der Sprache, in der er zu ihnen redet, an der
freundlichen und ehrerbietigen Anrede und an dem Hervorheben
des ihnen gemeinsamen Bodens.
1. Er redet in hebräischer Sprache.
Während Paulus mit dem Kommandanten der Tempelwache zu dessen
Verwunderung in der für die Gebildeten üblichen griechischen
Sprache geredet hatte (Kap. 21, 37), wendet er sich jetzt
an seine Volksgenossen in hebräischen Worten, die ihnen am
geläufigsten und auch den einfachsten Hörern am besten
verständlich waren. Schon diese Sprache, in der er
redete, beweist eine Rücksichtnahme und ein freundliches
Entgegenkommen des Apostels. Wir wissen es ja auch in
unserer Zeit, wie wohltuend es auf die Menschen wirkt, wenn
man sie in der Mundart anredet, die sie von Haus aus gewohnt
sind. Der heimatliche Klang der gleichen äußeren Sprechweise
kann eine verbindende Wirkung ausüben. So war es hier.
Hätte Paulus zu der Volksmenge griechisch gesprochen, so
hätten ihn viele längst nicht so gut verstanden, besonders
unter den geringen Leuten.
Laßt uns auch darin von dem Apostel lernen! Nicht jeder von
uns hat die Sprachkenntnis eines Paulus. Darum kann auch
nicht jeder so gewandt wie er den einen in dieser, den
andern in anderer Sprache anreden. Aber wir alle können uns
bemühen, zu jedem so zu sprechen, wie es für sein Verständnis
am angemessensten ist (1. Korinther 10, 32. 33; 13, 4;
Römer 14, 13 b).
2. Seine Anrede war freundlich und ehrerbietig.
Apostelgeschichte 22, 1 - 3.
Paulus beginnt seine Ansprache mit den Worten: ,,Ihr Männer,
liebe Brüder und Väter". Die angeredeten Personen hatten
sich in ihrem Benehmen gegen Paulus gerade nicht als ,,liebe
Brüder und Väter" bewiesen. Sie hatten sehr unbrüderlich
gegen ihn gehandelt und die Weisheit des Alters sehr
vermissen lassen. Dennoch redet sie der Apostel mit diesen
Worten an. Seine Volksgenossen blieben trotz all ihrer
unfreundlichen Stellung seine Brüder. Die mitanwesenden
Priester und Mitglieder des Hohen Rates redet er besonders
in der damals üblichen Weise als ,,Väter" an.
Mit dieser brüderlich freundlichen und zugleich ehrerbietigen
Anrede sagt Paulus gleichsam: Wenn ihr mir auch alle Liebe
entzogen habt und mich ausstoßt von euch, so will ich
euch dennoch weiter lieben. Wenn ihr mir auch alle Ehre
abschneidet und mich als einen todeswürdigen Verbrecher
hinstellt, so will ich euch dennoch die Ehre, die euch
zukommt, willig erweisen.
Die Anrede des Apostels war wie feurige Kohlen für das
Haupt der Feinde (Sprüche 15, 1; 25, 22; Römer 12, 20. 21;
Matthäus 5, 44 - 48). Wohl uns, wenn wir diese im Gespräch
mit Widersachern stets zur Hand haben!
3. Er stellt das in den Vordergrund, was ihn mit seinen
Zuhörern verbindet.
Zwischen Paulus und seinen Zuhörern war eine große Kluft.
Ihre Anschauung von den Wegen und dem Willen Gottes war ganz
verschieden von der seinigen. Nun suchte Paulus eine Brücke
zu schlagen zu den Herzen seiner Volksgenossen. Zu diesem
Zweck läßt er zunächst die trennenden Gedanken ganz auf der
Seite und beginnt mit dem, was er mit all seinen Zuhörern
gemeinsam hat. Er ist ihr Volksgenosse (,,Ich bin ein
jüdischer Mann"). Er ist wie sie in der gleichen Religion
erzogen und aufgewachsen. Er war wie sie von gleichem Eifer
für das Gesetz beseelt. Durch Hervorhebung dessen, was sie
gemeinsam hatten und sie verband, gewann er ihr Ohr für das
Neue, das er nun zu berichten hatte und ihrem Verständnis
nahezubringen suchte.
Hier wollen wir von ihm lernen. Unsere menschliche Ungeduld
läßt uns bei dem Gegner in religiösen Fragen oft zu schnell
das Neue hervorkehren, wovon wir ihn überzeugen möchten, und
unterläßt das liebevolle Hervorkehren dessen, was uns noch
irgendwie mit ihm verbindet. Wenn wir uns mit unbekehrten
und unerleuchteten Menschen über die wichtigsten Fragen
auseinandersetzen, so sollten wir in diesem Stück in die
Fußstapfen von Paulus treten. Wenn wir ihnen erzählen, daß
wir früher einmal genau so dachten und handelten wie sie, so
kann sie dies willig machen, weiteres zu hören (Philipper 4,
5; Sprüche 25, 15; Kolosser 3, 12).
(siehe Apostelgeschichte 22, 3 - 16)