Joh 10,12
C.O.Rosenius
Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte läßt sein Leben für
die Schafe. Joh. 10, 12.
Diese Worte sind so bekannt und oft gehört! Wer würde sie
jetzt wohl wieder betrachten wollen? Mancher könnte dabei
sogar einschlafen. Und trotzdem ist es gerade dieses Thema,
das vor jedem anderen ein eiskaltes Herz brennend und den
Toten lebendig machen kann, wenn es dem Geist Gottes gelingt,
dies Herz zu öffnen. O, halte darum noch einmal still und
bedenke, was der Herr Christus hier sagt: ,,Ich lasse Mein
Leben für die Schafe." Vielleicht bist du friedlos, freudlos,
kalt und unglücklich; hier kannst du erfahren, wie du ein
warmes, glückliches und friedevolles Herz erhalten kannst.
Und wie geschieht dies? Ja, wenn du nur einen festen Blick
auf das Angesicht deines Heilands richten kannst, während
Er spricht: ,,Ich bin der gute Hirte - Ich lasse Mein Leben
für die Schafe", und wenn du dieses nur in dein Herz
hineinbekommst, dann wird es wahrlich anfangen, warm zu
werden und unaussprechlichen Frieden und wahre Freude
empfinden. Bitte Gott um die Barmherzigkeit, daß Er dir
einen stillen, betrachtenden Geist und geöffnete Sinne gebe,
wenn du den Herrn diese Worte reden hörst. Bedenke, wer es
ist, der hier redet! Es ist derselbe, den du im Gebet
anrufst, es ist dein Heiland. Blicke auf Ihn und höre Ihn
sagen: ,,Ich bin der gute Hirte, - Ich lasse mein Leben für
die Schafe."
Merkst du nicht eine tiefe und herzliche Zärtlichkeit bei
Ihm, wenn er so redet? Oder meinst du dennoch, daß Er
wirklich so kalt und gleichgültig gegen dich sein könnte, wie
es dein ungläubiges und kaltes Herz wähnt? Nimm dann diese
Worte mit dir ins Gebet. Und wenn du die drückendste und
verzehrendste Besorgnis auf deinem Herzen hast und sie deinem
Heiland klagen willst, aber keine Liebe von Ihm zu empfinden
wähnst, suche dann Sein Bild zu fassen und in Sein Antlitz zu
sehen, wenn Er spricht: ,,Ich bin der gute Hirte - Ich lasse
mein Leben für die Schafe."
Denn sieh! Es sind doch Seine Worte, die du betrachtet hast.
Schaue Ihn sodann in dem eigentlichen Werk an, das hier
erwähnt wird, - in Seinem willigen Leiden und in Seinem
bitteren Tod, - und laß dann die Worte: ,,Ich lasse Mein
Leben für die Schafe" beständig vor dir stehen und deiner
Seele alles das erklären, was du siehst. Sieh, wie Er
freiwillig der Macht der Finsternis entgegenschreitet, die
Ihn in Gethsemane aufsucht. Höre, wie Er spricht: ,,Sucht
ihr Mich, so laßt diese gehen." - ,,Ich lasse Mein Leben für
die Schafe." Sieh, wie Er still ,,wie ein Lamm, das zur
Schlachtbank geführt wird", auf den Richtplatz hinausgeht und
dort Seine Hände und Füße durchbohren und sich an das Holz
des Kreuzes hängen läßt. Und wenn du Ihn im Ernste des Todes
siehst, höre dann Seine ewig gültigen Worte: ,,Ich lasse
Mein Leben für die Schafe."
Wagst du nun trotzdem, Seine Liebe und Zärtlichkeit in
Zweifel zu ziehen? Wagst du trotzdem, lieber deinem
finsteren, lügenhaften Herzen und dem Teufel zu glauben,
welche sprechen: ,,Er ist gleichgültig gegen dich, Er kehrt
sich nicht an deine Not, Er erwartet, daß du selbst dein Übel
überwinden sollst. Er erwartet, daß das Schaf sich selbst
gegen den Wolf verteidigen soll" usw.? Erbebe vor solchen
Einflüsterungen der Finsternis und laß deinen Heiland einmal
das sein, was Er wirklich ist, - die ewige und unbegreifliche
Zärtlichkeit, die nicht einmal dulden konnte, daß das Volk
in der Wüste hungerte oder daß ein Mann eine verdorrte Hand
hatte. Wieviel weniger kann Er dann dulden, daß deine Seele
in Not und Gefahr ist, ohne daß Er etwas dagegen tun sollte,
da Er doch zur Errettung der Seelen in die Welt gekommen ist!
Ich sehe, wie die ganze Person Christi und Sein Auftrag für
die Welt nur ein einziger großer Beweis einer unbegreiflichen
Liebe und Zärtlichkeit gegen das Menschengeschlecht sind. Er
selbst will, daß wir es so betrachten sollen, indem Er
spricht: ,,Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein
Leben für seine Freunde läßt." Nun habe ich wahrlich Grund zu
dem Schluß, daß alles, was ich selbst erfahre, sehe, fühle
und meine, unmöglich ebenso gewiß ist wie das, was Christus
mit der Hingabe Seines Lebens beweist. Mag er mich nachher
prüfen so sonderbar und beunruhigend, wie Er kann, mag Er
mich dem Teufel und allem Bösen überlassen, solange es Ihm
gefällt, - ich ahne doch, daß sich bei Ihm noch ein Herz
verbirgt, das aus inniger Liebe blutet, und daß Er - da ich
noch in der Gnadenzeit bin und mich selbst richte, aber auch
zu Seiner Barmherzigkeit fliehe - mich unmöglich im Ernst
verlassen wird. Nein, so wahr dieser treue Herr nicht
lügen kann, ist in Seinem Herzen schon Freude über ein
wiedergefundenes Schaf. Kurz, durch diesen Beweis der Liebe
Christi, nämlich durch die Hingabe Seiner ganzen Person und
Seines Lebens, mußt du zu einem solchen Glauben kommen, daß
Er hinfort mit dir handeln kann, wie Er will, und du so jenen
großen Beweis mehr gelten läßt. - In dieser Weise müssen wir
uns das zunutze machen, was Er hier sagt: ,,Der gute Hirte
läßt Sein Leben für die Schafe", indem wir nämlich, was auch
immer unser Herz bedrückt, bedroht, einschüchtert und plagt,
doch ein inniges Vertrauen zu Seiner Liebe und Hirtentreue
haben und zu Ihm hinfliehen, der allen Dingen so herzlich
gern abhelfen will und es so leicht kann.
In meiner kurzen Wandrungsfrist,
Was ängst' ich mich und klage?
Er, der der gute Hirte ist,
Trägt mich in jeder Lage.
Er, der uns liebet fort und fort,
Mit Seinem Geist und Seinem Wort,
Ist bei uns alle Tage.