Joh 1,4
C.O.Rosenius
In Ihm (dem Worte) war das Leben. Joh. 1, 4.
Was die Bedeutung dieses Wortes betrifft, so ist gewiß das
wahr, was scharfsinnige Ausleger bemerkt haben, daß nämlich
,,das Leben" hier in seiner weitesten Bedeutung genommen
werden muß, indem es all dasjenige Leben bezeichnet, das von
dem erschaffenden Wort ausgegangen ist, zumal im Grundtext
nicht ,,das Leben", sondern ,,Leben" steht. Als Gott durch
das Wort alles schuf, was auf Erden Leben heißt, ging dieses
Leben vom Worte aus. Wenn wir aber die geistliche Absicht
des Evangelisten in seinen Schriften sowie seine Redeweise an
anderen Stellen bedenken, so z. B. in seinem ersten Brief
Kap. 5: ,,Das Leben ist in dem Sohn Gottes", ,,Wer den Sohn
Gottes hat, der hat das Leben, wer den Sohn Gottes nicht
hat, der hat das Leben nicht", so hat er ohne Zweifel
hauptsächlich an das geistliche und ewige Leben der Menschen
gedacht, gleichwie er hier auch besonders ,,das Licht der
Menschen" erwähnt, wobei er also in erster Linie an die
Errettung des Menschengeschlechts denkt, welche ja der
Hauptzweck der Menschwerdung Jesu war.
Für den Apostel Johannes, den man mit dem Sonnenadler
darstellt, ist es bezeichnend, daß sein Blick tief und scharf
ist, und daß er in schlichte, geringe Worte sehr hohe,
sinnreiche Gedanken hineinlegt. Hier ist sein Blick ohne
Zweifel darauf gerichtet, daß das ganze Menschengeschlecht
nach dem ersten Urteil Gottes: ,,Welches Tages du davon
issest, wirst du des Todes sterben", durch den Sündenfall
alles Leben, das aus Gott war, verloren hat, und daß dieses
Leben jetzt nur im Sohn gefunden wird, dem es nach Seinen
eigenen Worten gegeben ist, Leben in sich zu haben und
lebendig zu machen, wen Er will. Johannes hat hier
angedeutet: Alles, was je ein Mensch zu seiner Errettung tun
kann, ist tot und verbleibt tot. Er vermag mit noch so hohen
Anstrengungen ebensowenig den Willen Gottes zu tun und sich
das Leben zu erkämpfen, wie eine Leiche sich lebendig machen
kann. Gleichwie es in der ganzen Schöpfung weder einen
Grashalm noch einen Wurm gibt, der nicht durch das
erschaffende Wort sein Leben erhalten hat, so hat kein Mensch
auch nur die geringste Fähigkeit, aus sich selbst in Gott zu
leben und das ewige Leben zu erwerben, sondern alles, was
wir tun, läßt uns im Tode, bis wir, an allem eigenen Tun
verzweifelnd, die Stimme des Sohnes Gottes hören und dadurch
lebendig werden.
Der Herr selbst bezeugt: ,,Wahrlich, Ich sage euch: Es kommt
die Stunde und ist schon jetzt, daß die Toten die Stimme des
Sohnes Gottes hören werden; und die sie hören werden, die
werden leben." An einer anderen Stelle redet Jesus auch so
stark von diesem geistlichen Tode, daß Er einige geistlich
tote Menschen ganz einfach mit einer Leiche verglich, die
begraben werden sollte, als Er z. B. zu dem Manne, der
seinen Vater begraben wollte, sagte: ,,Laß die Toten ihre
Toten begraben." Damit hat der Herr stark genug ausgesprochen,
daß das Leben nur im Sohn Gottes ist, und daß nur derjenige,
der den Sohn Gottes hat, auch das Leben hat. Aber ,,den Sohn
haben" heißt nicht nur zu Ihm beten oder daran arbeiten,
Ihm zu dienen, sondern es setzt voraus, von Gott geboren,
ein neuer, lebendiger Mensch geworden zu sein, der mit dem
Apostel Paulus bekennen kann: ,,Ich lebe aber; doch nun nicht
ich, sondern Christus lebt in mir. Denn was ich jetzt lebe
im Fleisch, das lebe ich in dem Glauben des Sohnes Gottes,
der mich geliebt hat und sich selbst für mich dargegeben."
An einer anderen Stelle sagt Paulus: ,,Wenn ein Gesetz
gegeben wäre, das da könnte lebendig machen, so käme die
Gerechtigkeit wahrhaftig aus dem Gesetz!" Aber in seinen
Briefen hat er ausdrücklich gezeigt, daß kein Gesetz
gegeben ist, welches lebendig und gerecht machen kann.
Es ist eine wichtige Lehre: Alle unsere Taten nach dem
heiligen Gesetz Gottes und alle Wirkungen des Gesetzes am
Menschen geben kein Leben. Denn das Gesetz kann nur das
hervorrufen, was im Menschen ist, und da ist kein Leben
vorhanden. Nur derselbe, der am Anfang das Leben erschuf,
kann Leben geben, wenn Er der Seele Leben und Frieden wird.
So ist der Sinn dieses Textes, daß nur Er allein das
Leben ist. In dieser Weise hat auch Luther unseren Text
verstanden, wenn er sagt:
,,Durch diesen einzigen Spruch sind nun alles menschliche
Vermögen und alle menschlichen Werke niedergeschlagen. Wie
willst du jetzt den freien Willen und das eigene Verdienst
erheben? Tue alles, was du vermagst, tue die Werke aller
Heiligen und Engel, so ist doch alles tot; denn hier steht
klar und unzweideutig: Was nicht im Worte ist, ist lauter
Tod."
O, daß doch alle Mühseligen und Beladenen bedenken und
glauben wollten, daß sie trotz allem, was sie jemals mit
höchster Anstrengung zur Bekehrung und Heiligung ihrer Seele
tun könnten, doch immer geistlich tot und verloren bleiben,
solange sie nicht an all ihrem eigenen Tun verzweifeln und
zum Sohn kommen, der allein Leben hat und Leben gibt; daß
also alle unsere Arbeit vergeblich ist. Soll geistliches und
ewiges Leben gewonnen werden, dann muß es durch dasselbe
allmächtige Schöpferwort geschehen, das am Anfang sprach:
,,Es werde!" Gleichwie alle Menschenkunst auf Erden, wie
meisterhaft sie sonst auch der äußeren Form nach einen
erschaffenen Gegenstand nachbilden kann, nichts Lebendiges,
kein Leben schaffen kann - alles, was Leben heißt, kann nur
Gott geben -, so ist auch alle Anstrengung vergeblich,
geistliches Leben zu erhalten. Nur in Ihm, der das Wort
heißt und der am Anfang alles Leben schuf, nur in Ihm ist
noch immer das geistliche und ewige Leben. Das wollte
Johannes mit dem Worte sagen: ,,In Ihm war das Leben."
Ich lag in schweren Banden, Hebst mich zu hohen Ehren
Du kommst und machst mich los; Und schenkst mir großes Gut,
Ich stand in Spott und Schanden, Das sich nicht läßt
verzehren,
Du kommst und machst mich groß, Wie ird'scher Reichtum tut.