Lk 23,43
A.Christlieb
Das zweite Kreuzeswort
Lukas 23, 43
»Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradiese
sein.«
Der hier angeredete Schächer war - menschlich gesehen - ein
unglücklicher und hoffnungsloser Fall. Seine Vergangenheit
war verfehlt, sein Ruf vor der Welt verdorben, die Folgen
seines Irrwegs waren nicht zu ändern. Ein qualvoller Tod
stand vor ihm. Diesen ärmsten Menschen erfüllte das obige
Heilandswort mit wunderbarem Trost und gab ihm eine lebendige
Hoffnung. Es machte ihn reicher und glücklicher als
sämtliche Spötter, die das Kreuz umstanden. Warum?
Dieses Wort gab ihm eine dreifache Gewißheit in sein Herz:
1. Die Gewißheit des Ortes, an den er gelangen würde
Der Schächer stand vor der Ewigkeit. Wie ein finsteres,
unbekanntes Land lag jene andere Welt vor ihm. Welches Los
mochte ihm dort bevorstehen? An welchen Ort würde er kommen?
Schaute er auf sein vergangenes verpfuschtes Leben, so war er
der untersten Hölle wert.
Nun aber gibt ihm der, dem alles Gericht vom Vater übergeben
ist, völlige Klarheit, daß er nicht an einen Strafort, auch
nicht an einen Reinigungsort, sondern in das Paradies kommen
werde. Welch eine frohe Botschaft! Ihm, dem tief gesunkenen
Sünder, soll der Garten Gottes geöffnet werden, den einst die
gefallenen Menschen nicht mehr betreten durften. Kein Cherub
mit dem bloßen hauenden Schwert (1. Mose 3, 24) wird den
Eingang verwehren; denn der, welcher über allen Cherubim
steht, heißt ihn hineingehen. Dieser sterbende Verbrecher,
der seine irdische Heimat nie wieder sehen wird, schaut durch
dieses Heilandswort eine neue Heimat vor sich, die besser ist
als irgendein Heim auf der Erde.
2. Die Gewißheit der Gesellschaft, in der er sich befinden
würde
Was soll der schönste Ort, was nützt selbst das Paradies,
wenn dort nicht die rechte Gemeinschaft ist? Man kann wie
Lot in eine Gegend ziehen, die wie ein Garten Gottes aussieht
(1. Mose 13, 10), und doch eine qualvolle Zeit dort
durchleben, wenn die Gesellschaft daselbst nicht gut ist.
Hätte der Schächer im Paradies Leute angetroffen, die sich
stolz und verächtlich von ihm abgewandt und ihn seine
Vergangenheit hätten fühlen lassen, so wäre ihm dieser
herrliche Garten eine Hölle geworden. Das aber sollte nicht
der Fall sein. Es wurde ihm eine Gesellschaft zugesichert,
die nicht stolz und hochmütig, sondern »sanftmütig und von
Herzen demütig« (Matth. 11, 29) war.
Die beiden Worte »mit mir« gaben dem Schächer die Garantie,
daß er mit Jesus selbst in jener andern Welt Gemeinschaft
haben würde. Welch eine Gnade! Der Schächer war ein Mann,
der wegen seiner Übeltaten aus der menschlichen Gesellschaft
ausgestoßen worden war. Dieses Menschen wollte sich Jesus im
Paradies nicht schämen! Der, vor dem alles Himmelsheer sich
beugt, wollte sich dort mit einem früheren Raubmörder zeigen!
Wenn irgend ein Wort Evangelium enthält, dann dieses! Die
Gesellschaft Jesu war die höchste Ehre für den, der seine
Ehre verloren hatte. Sie war aber auch der herrlichste
Genuß.
Schon hier - in seiner letzten Lebensstunde - hatte der
Schächer erfahren, welcher Segen von der Nähe Jesu ausging.
Durch ihn war er zur Umkehr und zum Glauben geführt worden.
Ihm verdankte er alles, was er hatte. Dieser Heiland, der
seine verlorene Erdenzeit noch zurecht gebracht hatte durch
seine Gnade, wollte auch drüben bei ihm sein. Das war genug.
Mehr brauchte er nicht. Wem die Gesellschaft Jesu hienieden
das Liebste in der Welt geworden ist, wer das Glück und den
Reichtum seiner Nähe und Gemeinschaft kennenlernen durfte,
der kann auf die Kenntnis der Einzelheiten der künftigen Welt
verzichten, wenn dies eine nur feststeht: Ich darf bei meinem
Herrn sein. Diese Zuversicht wurde dem Schächer geschenkt.
3. Die Gewißheit der Zeit, wann er in den Besitz der großen
Freude kommen würde
Der Schächer wäre gewiß zufrieden gewesen, wenn Jesus ihm für
eine ferne Zukunftszeit das herrliche Ziel in Aussicht
gestellt hätte. Aber er bekommt mehr. »Heute« noch soll ihm
dies alles zuteil werden. Welch eine Kürze der Frist! Nicht
nach langen Jahren der Läuterung würde er dereinst würdig
werden. Nein, heute noch, wo er am Verbrecherkreuz hing,
heute noch, wo ihn die Menschen verachteten oder bedauerten,
heute noch, wo er öffentlich als Auswurf der menschlichen
Gesellschaft am Pranger stand, soll er in diese Ehre und
Herrlichkeit einrücken.
Keine Bedingungen sind an dieses so schnelle günstige Los
geknüpft. Bei Jesus gibt es freie und völlige Gnade. Mit
einem »Wahrlich, ich sage dir« bekräftigt der Herr diese
seine Verheißung. Sie steht felsenfest, und keiner kann
daran rütteln. Wer beim Heiland und seiner Vergebung
gläubige Zuflucht sucht, geht in der Stunde seines irdischen
Abschieds sofort zu ihm in die Herrlichkeit. Solche Gnade
ist ein Born, an dem der ärmste Sünder den Durst seiner Seele
stillen darf. Sie lädt alle ohne Ausnahme ein: »Wendet euch
zu dem, der den Schächer annahm! Er erfüllt die
Hoffnungslosesten mit der seligsten Hoffnung.
C.Eichhorn
Das Gnadenwunder am Schächer (III)
Wahrlich, ich sage dir, heute wirst du mit mir im Paradiese
sein! Luk. 23, 43
Jesus gibt ihm eine ganz feste und bestimmte Zusage. Er
setzt noch ein "Wahrlich" hinzu wie ein Siegel, das
aufgedrückt wird. Sein Wort ist unverbrüchlich. Eher fallen
Erde und Himmel dahin, als daß er seine Verheißung bricht.
Nun wußte es der Schächer ganz gewiß: Ich bin bei Gott
angenommen, und ich werde zu ihm kommen. Sein Leib war in
einer Hölle der Schmerzen, aber seine Seele im Himmel.
Leiden ohne Trost ist schrecklich. Leiden mit dem Trost der
Liebe Gottes ist nicht allzuschwer. - Allerdings mußte die
Heilsgewißheit des Schächers einige Proben bestehen. Der Ruf
Jesu: "Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?"
konnte ihn stutzig machen. Wie? Der Jesus, der mir den
Weg zu Gott aufgeschlossen hat, ist nun selbst von Gott
verlassen? Was wird nun aus mir? Doch die zwei letzten
Worte Jesu am Kreuz gaben wieder Trost. - Nun kam aber eine
neue Probe. Der Herr Jesus verschied. Und nun war der
Schächer allein und konnte sich nicht mehr an seiner
sichtbaren Gegenwart stärken und aufrichten. Sein Glaube war
nun bloß auf das Wort angewiesen, das ihm der Heiland gesagt
hatte. Doch das muß genügen. Die Gefühle wechseln. Der
Glaube muß sich darum auf das immer gleiche und nicht
wankende Wort der Verheißung verlassen. Glaube, der sonst
keine Stützen hat als das Wort, ist vollendeter Glaube.
- Dann kam die letzte Probe. Ihm und seinem Genossen wurden
von den Soldaten die Beine mit Knüppeln zerschmettert. Sie
wurden totgeschlagen wie Hunde. Es war das Gegenteil von
einem sanften Ende. Doch er wußte:
"Ich komme ins Paradies." Ein sogenannter sanfter Tod ist
noch lange kein seliges Ende. Oft müssen gerade Gotteskinder
zuletzt noch schwer leiden. Die Hauptsache ist die feste
Gewißheit der bevorstehenden seligen Heimkehr. Zu ihr können
wir ebenso gelangen wie der Schächer. Wir müssen uns nur
ganz neben ihn stellen in dem Bewußtsein, daß wir um kein
Haar besser sind als er. Wir müssen ferner wie er allein auf
die Gnade bauen, die den Sünder ohne jedes eigene Verdienst
selig macht, und an dieser Gnade festhalten bis ans Ende. -
Die Begnadigung des Schächers ist von alters her ein Trost
für solche, die noch in der letzten Stunde zum Heiland
kommen. Es ist wirklich wahr: Wer in aufrichtiger Buße ihm
naht, für den ist es nie zu spät. - Doch das Beispiel des
Schächers kann auch mißbraucht werden zu gefährlicher
Sicherheit. Hüten wir uns vor dem Gedanken: Es eilt nicht!
Es ist noch Zeit, Gnade zu erlangen auch kurz vor Torschluß!
Vergessen wir nicht, daß der Schächer auf Golgatha zum ersten
Mal mit Jesus in Berührung kam! Und bei dieser ersten
Begegnung ergab er sich ihm. Wie oft ist Jesus uns schon
nahegetreten! Je öfter wir das Ohr dem Ruf der Gnade
verschließen, desto tauber werden wir. Wer die Bekehrung
aufschiebt, versperrt sich am Ende den Weg dazu. Gott läßt
sich nicht spotten (Spr. 1, 24 - 28). Es gilt zuzugreifen,
sobald uns der Herr nahekommt.