Lukas

Lk 15,31 C.Eichhorn Auch ihn will der Vater gewinnen Der Vater ging heraus und bat ihn und sprach zu ihm: Mein Sohn, du bist allezeit bei mir, und alles, was mein ist, ist dein. Luk. 15, 28.31

Wieviel Bosheit ist doch in wenigen Minuten aus dem Herzen des ältesten Sohnes herausgekommen! Er verletzt den Vater, indem er ihm Ungerechtigkeit vorwirft, und zeigt sich wegwerfend dem Bruder gegenüber. Er mag ihn nicht einmal seinen Bruder nennen. "Dieser dein Sohn", sagt er verächtlich und kalt. Ja, man kann äußerlich fromm sein und sich dafür halten, und doch ist das Herz fern, sehr fern von Gott. Die Gottferne beim verlorenen Sohn trat offen zutage, aber bei dem Erstgeborenen war sie versteckt. Wer befriedigt auf sein eigenes Tun schaut, erfährt und weiß nichts von unverdienter Gnade. Weil die Schrift sagt: "Sie sind allesamt abgewichen, da ist keiner, der Gutes tue, auch nicht einer", darum müssen auch die frommen und äußerlich unbescholtenen Leute sich bekehren. Diesen anständigen und ihrer religiösen Pflicht nachkommenden Menschen wird die Bekehrung viel schwerer als verlorenen Söhnen. Eine solche Bekehrung erregt vor der Welt kein Aufsehen. Es ist eine innerliche oder Herzensumkehr, die unmerklich vor den Augen der Fernstehenden vor sich geht, aber den Nahestehenden, besonders den Hausgenossen, nicht verborgen bleibt. Sie spüren die Umwandlung: vorher hart und streng im Urteil, nun mild und nachsichtig; vorher nur gerecht, unerbittlich gerecht, jetzt barmherzig. Es ist ein Wunder der Gnade, wenn einer aus dem Sumpf der Sünde herausgerettet wird. Aber es ist kein geringeres Wunder, wenn der harte Sinn des äußerlich frommen und tadellosen Menschen von der göttlichen Gnade erweicht und gebrochen wird. Gott möchte auch die Selbstgerechten zurechtbringen und an sein Herz ziehen. "Mein Sohn", sagt er liebevoll zu dem erregten und erbitterten Menschen. Er versichert ihn also seiner Liebe, von der er sich ausgeschlossen wähnt. Dann stellt er ihm seine Lieblosigkeit nicht mit Scheltworten, sondern liebreich und eindringlich vor Augen. O, wie groß ist die Güte des Herrn! So groß, daß sie das enge, lieblose Menschenherz nicht fassen kann. Die Liebe des Vaters zum verlorenen Sohn war gewiß großartig und ergreifend. Aber sie wird überboten durch die Liebe zum älteren Sohn. Der jüngere kam liebehungrig und gebeugt. Er schmiegte sich an den Vater an und war dankbar für jeden freundlichen Blick. Der ältere Sohn stieß die Liebe des Vaters von sich, als ihn der Vater bat, einzutreten. Er stieß gehässige Reden aus und bewies einen furchtbaren Trotz. Dennoch ließ der Vater ihn nicht laufen, sondern suchte ihn mit aller Sanftmut von seinem Unrecht zu überzeugen. Er sollte es als eine Gnade betrachten, daß er nicht auf solche Abwege geraten ist. So ist die göttliche Liebe. Wie lange wehrst du dich gegen sie? Willst du nicht auch dein Herz von ihr gefangennehmen lassen?