Lk 10,27
C.O.Rosenius
Du sollst Gott, deinen Herrn, lieben von ganzem Herzen, von
ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüte. Luk.
10, 27.
Dies ist das vornehmste und größte Gebot. Und was kann
billiger sein, als Gott den Herrn so zu lieben? Ist es nicht
wahr und recht, daß jeder Pulsschlag, jeder Gedanke, jede
Kraft, unser ganzes Herz und unser Denkvermögen samt Leib,
Seele und Geist Ihm angehören, jeden Augenblick Ihm geweiht
Sein sollten? Keine Stunde unseres Lebens dürfte dahingehen,
ohne daß wir mit sehnsuchtsvoll liebender Seele auf Ihn
sähen, nach Seinem Willen und Wohlgefallen fragten, auf Seine
Winke achteten. Wesen, die zum Bild Gottes geschaffen sind,
geziemt wahrlich nichts weniger. Und dies liegt in den
Worten: ,,Liebe den Herrn, deinen Gott, von ganzem Herzen,
von ganzer Seele, von allen Kräften und von ganzem Gemüt."
Daß du Gott lieben sollst ,,von ganzem Herzen", besagt
eindeutig, daß du Ihn aufrichtig und ohne Heuchelei wirklich
lieben sollst, so daß Er das vornehmste Ziel deines Herzens
ist, das alle anderen in den Schatten stellt und worauf alles
hinzielt. Denn wir wissen: Der Mensch ist so beschaffen, daß
er nie zu gleicher Zeit zwei Ziele gleich viel lieben kann,
sondern eins ist immer das vorherrschende, wie Jesus Matth.
6, 24 erklärt. Gerade dieses vornehmlichste Ziel deines
Herzens, an das du am meisten denkst, nach dem du am meisten
trachtest, an dem du am meisten hängst und das dich am
meisten befriedigt - dieses Ziel deines Herzens will Gott der
Herr allein sein. Dies bedeutet das Wort ,,lieben von ganzem
Herzen". Die folgenden Worte bilden hernach nur eine weitere
Entwicklung des ersteren oder dessen, was immer damit Hand in
Hand geht. Wenn also ,,von ganzer Seele" hinzugefügt wird,
so heißt dies, daß du, wenn du Gott von ganzem Herzen liebst,
auch dein ganzes Leben Ihm opferst, so daß dein eigenes
Wohlergehen, deine Ehre, dein Genuß, ja, selbst dein Leben
gegen Ihn gering geschätzt werden. Denn das Wort ,,Seele"
bezeichnet in der Schriftsprache gewöhnlich das leibliche
Leben und alles das, was in unseren äußeren Sinnen vor sich
geht. Wenn also entweder Liebe zu den irdischen Dingen und
eigenem Besitz oder Furcht vor dem Leiden dich vom Herrn
ablenken und wegtreiben wollen, dann sollst du alles
fahrenlassen und sprechen: ,,Jetzt möge verlorengehen, möge
über mich kommen, was da will; wenn ich nur Dich habe, So
frage ich nichts nach Himmel und Erde."
Weiter heißt es ,,von allen Kräften". Alle deine Kräfte
sollen jeden Augenblick mit Gott, mit Seiner Verehrung und
Seinem Dienst beschäftigt sein, so daß deine Gedanken immer
bei Ihm sind, deine Vorstellungen und Gemütsbewegungen immer
Ihn zum Gegenstand und zum Ziele haben, deine Augen nur nach
dem sehen und deine Ohren nur auf das hören wollen, was Ihm
angehört, deine Zunge beständig von Ihm reden will, deine
Hände immer etwas zu Seinem Dienste tun wollen. -
Schließlich heißt es ,,von ganzem Gemüt" oder eigentlich
,,Nachdenken". Lieben von ganzem Gemüt oder Nachdenken zielt
auf die Umsicht dieser Liebe hin, um in jedem Fall die beste
Weise zu treffen, dem Geliebten zu gefallen und Ihm zu
dienen, was mit anderen Worten Achtgeben auf den Geschmack
und das Wohlgefallen des Geliebten ist, so daß alles, was
ihm gefällt, dem Liebenden immer das Richtigste, Beste und
Angenehmste ist. Wenn wir es anders ausdrücken, so bedeutet
dies, von keiner anderen Richtschnur als dem Wohlgefallen
Gottes zu wissen. Wenn Gott etwas will oder zuläßt und
zuschickt, und sei mir dies auch noch so bitter, ist mir
alles sofort lieb und teuer, nur weil der liebe Gott es will.
Dieses muß aus freiem Trieb geschehen. Denn Lieben von
ganzem Gemüt ist das Gegenteil von dem, was man auf Befehl
oder aus Zwang tut. Darum, wenn es dir Mühe macht und dir
schwerfällt, nach Gottes Willen etwas zu tun oder zu leiden,
so daß du mit einigem Widerstreben zu streiten hast, dann
liebst du Gott nicht von ganzem Gemüt. Du sollst Ihn so
lieben, daß alles, was Er jemals zuläßt oder dir zusendet,
um Seinetwillen dir immer lieb und teuer ist, wäre es an
und für sich auch noch so bitter, z. B. wenn der liebste
Gegenstand, den du auf Erden besitzest, dir geraubt oder dein
irdisches Glück zerstört, dein guter Name oder dein guter Ruf
zugrunde gerichtet wird usw. Sieh, dies alles ist an und für
sich bitter, es soll dir aber wegen des Wohlgefallens deines
Gottes angenehm und lieb sein, nur darum, weil Er es will.
Das enthalten die Worte ,,Gott lieben von ganzem Gemüt". Wie
kann man Gott von ganzem Gemüt lieben und dennoch nicht das
lieben, was Ihm gefällt, sondern Widerwillen empfinden gegen
ein Gebot, das Er gegeben, oder gegen ein Leiden, das Er
gesendet hat? Liebst du nur Gott von ganzem Herzen, von
ganzer Seele, von ganzem Gemüt, so muß ja alles, was Ihm
wohlgefällig ist, dir gleich lieb sein, mag es nun lieblich
oder bitter sein, wenn nur Er es will.
Ich bin allein dein Gott, der Herr,
Kein' Götter sollst du haben mehr,
Du sollst Mir ganz vertrauen dich,
Von Herzens Grunde lieben Mich,
gebietet Gott.