Mt 27,46
C.Eichhorn
Karfreitag
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?
Matth. 27, 46
Etwas Schwereres konnte dem Heiland nicht widerfahren. Sein
Jammer wurde noch verschärft durch die höhnenden Stimmen: "Wo
ist nun dein Gott? Seht ihr nun, wie Gott ihn verlassen hat
und fragt nichts nach ihm?" Die Schmerzen der Kreuzigung
waren für Jesus nicht das Schlimmste. Aber das war für ihn
fast unerträglich, daß er statt der Liebe des Vaters eine
Gottesferne empfinden mußte. War doch die selige Gottesnähe
sein höchstes Glück, sein Himmel auf Erden. Diese Liebe
erleuchtete seinen dunklen Erdenpfad und tröstete ihn über
alle bitteren Erfahrungen seiner Erdentage. Sie mußte er nun
entbehren, wo er ihrer am meisten bedurft hätte. Aber er
hielt dennoch fest an Gott, wie die Worte uns zeigen: "Mein
Gott!" Er hielt ihn fest umfangen. Gleichzeitig umschlang
er auch die Menschheit, die unter finsterem Sünden- und
Todesbann lag. Er ließ seinen Gott und ließ uns nicht los.
"Warum", fragt der Heiland, "hast du mich verlassen?" Es ist
nicht ein vorwurfsvolles Warum, wie es so oft über die Lippen
sündiger Menschen kommt. Jesus rechtete nicht mit Gott. Es
war ein Klage- und Hilferuf mit den Worten des 22. Psalms,
der ihm für diese schwerste Stunde tausend Jahre zuvor
aus dem Munde Davids zubereitet worden war. - Warum? Die
Antwort ist nicht schwer. Gott hatte Jesus nicht darum
verlassen, weil er ihn verlassen hatte. Vielmehr weil er
sich ganz mit uns zusammengeschlossen hatte, kam er in
die dunkle Wolke des Zornes Gottes, die auf der sündigen
Menschheit lagerte. - Die Gottverlassenheit war nicht nur
ein Gefühl in der Seele Jesu, sondern Gott zog wirklich seine
Liebesgegenwart eine Weile von ihm zurück und ließ ihn die
Wand verspüren, die den Sünder von Gott trennt. - Aber es
verhielt sich auch nicht so, daß Gott ihm persönlich zürnte.
Nein, keine Sekunde war er aus dem Herzen des Vaters
verbannt. Das Wohlgefallen Gottes ruhte vielmehr in erhöhtem
Maße auf ihm, als er sich im Gehorsam gegen Gott dem
Schwersten unterzog. Er kostete den Zorn Gottes über die
Sünde, die er nicht getan hatte, die er aber auf sich nahm,
als wäre es die seine. O Wundermacht der Liebe!
- Jesus mußte die Bitterkeit des Todes schmecken. Denn Gott
hat ihn zur Sünde gemacht. "Er ward ein Fluch für uns." Wer
nun an den Heiland glaubt, "schmeckt" den Tod nicht mehr.
Er "sieht" oder erfährt ihn nicht. Er lebt, ob er gleich
stirbt. Er kommt nicht um, sondern heim. Er schläft ein, um
wieder zu erwachen. - So sind schon ungezählte Tausende,
voran die Märtyrer, in den Tod gegangen. Gott erquickte sie
und hob sie über alles Schwere hinweg. Als der Märtyrer
Laurentius auf glühenden Rost gelegt wurde, fühlte er sich
wie auf Rosen gebettet. Weil Jesus für uns von Gott
verlassen war, dürfen wir sterbend die liebende Gegenwart
Gottes haben und spüren. Wir scheiden von der Welt, aber
nicht von ihm.