Mt 26,50
Ch.Spurgeon
"Jesus aber sprach zu ihm: Freund, wozu bist du hier?"
Matthäus 26,50
Das erste Wort, das Jesus zu Judas sprach, nachdem ihn der
Verräter geküßt hatte, war "Freund". Beachte das! Nicht "du
hassenswerter Bösewicht", sondern: "Freund, wozu bist du
hier?"
Ach, wenn irgend etwas Gutes in Judas übriggeblieben wäre,
so wäre es jetzt zum Vorschein gekommen. Wäre er nicht ein
unverbesserlicher Verräter gewesen, so hätte sein Geiz in
diesem Augenblick seine Macht verlieren müssen, und er hätte
gerufen: "Mein Herr! Ich bin gekommen, dich zu verraten;
aber dein Gruß hat mein Herz gewonnen. Wenn du gebunden
werden mußt, so will ich mit dir gebunden werden. Ich
bekenne dir meine Schuld."
Unser Herr fügt noch einige Worte hinzu, und in ihnen liegt
ein Vorwurf. Aber beachtet, wie freundlich sie dennoch
klingen: "Judas, mit einem Kuß verrätst du des Menschen
Sohn?" Ich kann mir vorstellen, daß Tränen in seinen Augen zu
sehen waren und daß seine Stimme bebte, als er seinen
vertrauten Freund und Bekannten so anredete: "Verrätst du,
mein Judas, mein Schatzmeister, den Sohn des Menschen, deinen
leidenden, trauernden Freund, der nicht hat, wo er sein Haupt
hinlegen kann? Entweihst du das zärtlichste aller
Liebeszeichen?"
Wäre Judas nicht verstockt gewesen, so hätte er auf sein
Antlitz niederfallen müssen, um zu rufen: "Nein, ich kann
dich nicht verraten, du leidender Sohn des Menschen!
Entfliehe dieser blutdürstigen Schar und verzeihe deinem
verräterischen Jünger!"
Ich möchte, daß ihr in euren stillen Betrachtungen die Augen
auf euren Herrn richtet, wie er von den Menschen verachtet
und verworfen wurde. Umgürtet die Lenden eurer Gesinnung und
haltet es nicht für etwas Seltsames, wenn dieses schwere
Leiden über euch kommen sollte. Aber seid entschlossen,
niemals den Herrn zu verraten, wie es dieser sonst so
hervorragende Jünger tat, sondern durch des Herrn Gnade in
Schande und Leid an ihm zu hängen und ihm zu folgen - wenn
es sein muß selbst bis zum Tod.