Mt 19,20
C.O.Rosenius
Was fehlt mir noch? Matth. 19, 20.
Viele sind religiös, aber sie sind nicht einmal erweckt und
noch weit weniger Christen. Viele sind erweckt und in einer
gewissen Weise bekehrt, nämlich von dem gewöhnlichen, freien,
gottlosen Wesen der Welt zu einer ernsten Übung der
Gottseligkeit, aber sie sind trotzdem keine wahren Christen,
d. h., keine in Christus freigemachten, seligen Menschen.
Mancher glaubt und bekennt Christus als unsere Gerechtigkeit,
Weisheit, Heiligung und Erlösung, weil er weiß, daß Christus
dies alles sein soll, und daß man so glauben und bekennen
muß, um ein vollständiger Christ zu sein. Mitten unter dem
Glauben und dem Bekenntnis hat das Herz aber im geheimen
seinen Trost und sein Vertrauen in etwas anderem, wie z. B.
im Ernst der Bekehrung, in Reue, Gebet und Kampf. Wenn diese
dann so sind, wie sie sein sollen, dann ist man so gläubig
und getröstet - in Christus? Wenn es aber daran fehlt, kann
man sich auch nicht Christi allein getrösten, dann bedeutet
Er nichts. Das ist dann die schleichende Schlange der
Eigengerechtigkeit, ein falscher Glaube, weil man nicht
wirklich in Christus seinen ganzen Trost hat.
Als einen schönen, bezeichnenden Ausdruck dieser Wahrheiten
lesen wir 1. Kön. 19,11-13 folgendes: ,,Und siehe, der Herr
ging vorüber, und ein großer, starker Wind, der die Berge
zerriß und die Felsen zerbrach, vor dem Herrn her; der Herr
aber war nicht im Winde. Nach dem Wind kam ein Erdbeben,
aber der Herr war nicht im Erdbeben. Und nach dem Erdbeben
kam ein Feuer, aber der Herr war nicht im Feuer. Und nach
dem Feuer kam ein stilles, sanftes Sausen. Da das Elia
hörte, verhüllte er sein Antlitz mit einem Mantel und ging
heraus und trat in die Tür der Höhle."
In diesem majestätischen Wunderbild sah der Prophet eine
Schilderung und Deutung nicht nur seiner eigenen Führung,
sondern auch der allgemeinen Haushaltungsweise Gottes
innerhalb des Gnadenreiches auf Erden. Der Sturm, das
Erdbeben und das Feuer sind nämlich eine treffliche
Schilderung des Gesetzes und seiner Zeit und Wirkungen.
Dagegen stellt der Klang des stillen, sanften Sausens
wunderbar schön das Evangelium und dessen Zeit dar. Erstens
stellt es im allgemeinen Äußeren die verschiedenartigen
Zeiten und Regierungsweisen des alten und des Neuen
Testamentes dar. Dann zeigt es im kleinen, im besonderen, im
einzelnen Inneren eines jeden, der bekehrt wird, - wo auch
immer eine alttestamentliche Zeit mit ihren Gesetzen, ihrem
Zwang, ihren vielfachen Opferdiensten und ihrer Erwartung der
Ankunft und gnadenvollen Offenbarung Christi vorangeht - eine
alttestamentliche Zeit, die bei dem einen länger, bei dem
anderen kürzer währt.
Bei manchem entsteht nämlich eine Art Sturmwind geistlicher
Entdeckungen und Vorsätze, geistlicher Worte und
Unternehmungen, so daß dieser Mensch anfängt, im Namen des
Herrn auf andere einzustürmen, ,,Berge zu zerreißen und
Felsen zu zerbrechen vor dem Herrn." Es ist dabei eine gute
Absicht, aber wenig Besinnung, wenig Verständnis und wenig
eigene Erfahrung vorhanden. Er ist nicht einmal wirklich
erweckt, denn er hat noch viel Trost in sich selbst und große
Hoffnungen auf den Fortschritt seiner Besserung. Es ist aber
nur Wind, ein großer, starker Wind. ,,Der Herr aber war
nicht im Winde."
Doch es kommt weiter mit dem Menschen. Er wird wirklich
erweckt, es entsteht in seinem Innern ein Erdbeben, es
entsteht ein Herzbeben, er bekommt zu sehen, daß er mit all
seinem Stürmen nicht selbst wirklich ist und tut, was das
Wort sagt. Er erschrickt, er strengt sich ernstlich an,
jetzt zu tun und zu werden, wie ihm geziemt; aber es wird
nichts daraus, es ist keine Kraft vorhanden, nur die
Zerstörung des Erdbebens ist da. ,,Denn der Herr war nicht
im Erdbeben." Es wird im Gegenteil ärger und ärger, denn
durch das Gebot wird die Sünde lebendig und erregt in ihm
allerlei Lust, sie wird mächtiger als zuvor. Dadurch
entsteht ein Feuer, ein peinigendes Feuer der Angst sowie
ein brennendes Feuer der Anstrengung, aber alles ist ebenso
vergeblich. ,,Denn der Herr war nicht im Feuer." Jetzt
entfällt der Mut, alle Versuche sind fruchtlos, alle
Hoffnungen fehlgeschlagen, alles ist verloren; und nun
beginnt das eigengerechte Ich verzehrt zu werden, ich soll,
ich muß, ich sollte ja! Und ,,ich starb", sagt Paulus. Doch
jetzt kommt das stille, sanfte Sausen, die erquickende,
friedegebende und seligmachende Stimme des Evangeliums dem
verzweifelten Herzen recht gelegen. Jetzt schmeckt es gut,
von einer ganz unverdienten Gnade für das verlorene, in
Verzweiflung daliegende Menschenkind zu hören, jetzt, wo
aller Trost zu Ende ist, findet der rechte Trost Raum im
Herzen; jetzt beruhigen sich die stürmenden Gedanken, die
Qualen und Begierden, und neues Leben, Freude, Friede, Liebe,
Vertraulichkeit mit dem Herrn, milde Augen, fröhliche Worte,
neue geistliche Kräfte sind jetzt vorhanden. Jetzt ist der
Herr da, jetzt verbirgt man das Antlitz über eine so
unerwartete Hilfe, eine so unverdiente Gnade, und sagt: ,,Das
hätte ich nimmer gedacht, daß es diesen Weg gehen sollte, und
daß ich aus lauter Gnade - Gnade empfangen würde, als ich am
allerunwürdigsten war". Oder man verstummt in seliger Scham
über die große Gnade, wie es bei Hes. 16 heißt: ,,Du wirst
daran gedenken und dich schämen und vor Schande nicht mehr
deinen Mund auftun, wenn Ich dir alles vergeben werde, was
du getan hast, spricht der Herr, Herr".
Wenn uns're Sünde, Herr, das Herz anficht
Und will uns rauben den getrosten Mut,
Laß fest uns schauen auf dein helles Licht,
Das alles Dunkel tilgt durch seine Glut.
Der Du viel größer bist als Schuld und Not,
Trägst ewig auch mit uns Geduld, O Gott!